Das Heerlager der Heiligen
des Gefängnisses geöffnet. Er sagte sich, daß Christus für alle gestorben sei, hauptsächlich aber für die Schächer …
»Er hatte es uns vorher versprochen. Aber trotzdem konnten wir es nicht fassen. Gott weiß, wo er jetzt ist. Ich sage Ihnen, wenn der Ganges eintrifft und man ihn an Land gehen läßt, wird an diesem Tag kein Gefängnis mehr geschlossen bleiben …«
Dann hatte man geplaudert. Über alles. Von der dreckigen Gesellschaft, von den Bürgern, die von Gewinnsucht verdorben sind, von den hinter den Maschinen stumpfsinnig gewordenen Arbeitern. Unter dem Einfluß von Alkohol wurde der Ton lauter, aber bei den zum Leben zurückgekehrten Männern war das verständlich. Ein junger Mann erzählte:
»Ich hatte für meine Zukunft eine Gleichung aufgemacht. Entweder vierzig Jahr an einer Maschine hocken oder drei Minuten aufwenden, um einen großen Schlag zu riskieren und die Beute wegzuschaffen. Ich ging das Risiko ein, verlor und wurde eingebuchtet. Ist die Gesellschaft nicht dreckig?«
Eine Stunde später war dieser Junge betrunken und sagte mit bösem Gesicht: »Gut! Das ist nicht alles. Wir pfeifen auf alles. Aus mit dem Blabla! Wollen wir nicht ein wenig lachen? Wie wär‘s Kumpels, wenn wir uns echt amüsieren? Zuerst aber tanzen. He! Hübsche!«
Es war zu spät, um den Rückzug anzutreten. Die Häftlinge balgten sich um Iris Nan-Chan, die sie sich rücksichtslos aus den Armen rissen, so daß ihre Kleidung bald in Fetzen hing. Dio versuchte, sich durch die toll gewordene Meute einen Weg zu seiner Frau zu bahnen.
»Du da«, sagte einer, »du bist nur ein von Moneten verdorbener Spießbürger. Habt ihr das Auto dieses Dreckhaufens gesehen? Ihr glaubt, er hätte euch verteidigt? Überhaupt nicht. Er hat seine Artikel geschrieben und auf unserem Rücken einen Berg Zaster verdient. Heute ist Zahltag. Los, Madame! Auf geht‘s« …
Einige Häftlinge stellten sich dazwischen. Es entspann sich ein kurzer Kampf, bei welchem die »Gemäßigten« bald unterlagen, da sie in der Minderheit waren. Mit Fußtritten brachte man Dio in die Toilette im dritten Stock.
Jetzt hielten die Schritte vor der Tür. Dio hörte, wie der Schlüssel umgedreht wurde. Der Mann, der öffnete, schien noch betrunken zu sein, war aber wieder bei Sinnen. »Sie können rauskommen«, sagte er zögernd mit matter Stimme. »Das Fest ist zu Ende.« Er überlegte und fügte hinzu: »Man wird sich entschuldigen … Wir ehemaligen Gefangenen hätten Sie nicht einsperren sollen. Aber Sie müssen verstehen, wenn das Rad sich mal dreht, dann muß es laufen… Hm… Ihre Frau ist unten. Ich glaube, es ging anfangs etwas zu wild her. Sie mußte anständig trinken; danach ging es viel besser. Hm … Ich habe sie nicht angerührt … Ade!«
Das Hotel stank nach Wein, Tabak und kaltem Erbrochenem. Die meisten Fenster waren kaputt. Man hatte Flaschen kreuz und quer umhergeworfen. In den offenen Hotelzimmern lagen auf den unberührten Betten schnarchende Häftlinge. Dio sprang über die auf der Hoteltreppe liegenden Schläfer hinweg. Aus einem Radio ertönte Konzertmusik. Der letzte Betrunkene hatte wohl vergessen, es abzustellen, bevor er zusammensackte. Dio fand seine Frau vor der Bar. Sie schlief völlig nackt auf einer Bank. Einer hatte auf ihre Brust gekotzt, ein anderer eine Serviette auf ihren Unterleib gelegt. Sie schlief so tief, als ob sie den Inhalt dieser Tube Barbitursäure getrunken hätte, die leer zu ihren Füßen lag.
Plötzlich hörte das Konzert auf. Eine Stimme sagte: »Sie hören jetzt eine Ansprache des Herrn Präsidenten der Republik« … Und so vernahm auch Dio in dieser mitternächtigen Osterstunde die Rede, auf welche die ganze Welt wartete.
36.
Mitternacht. Der Präsident wird gleich sprechen. Man müßte den Lauf der Dinge für einen Augenblick aufhalten und in ein stehendes Bild verwandeln, um das Weltgeschehen und die Akteure des Dramas in der Minute der Wahrheit voll erfassen zu können. Eine unmögliche Aufgabe. Die ganze Erde ist am Lautsprecher. Alle Stationen und Satelliten sind auf die französische Welle eingestellt. Höchstens Scheinwerfer, die durch Nacht und Nebel und durch Dächer hindurchdringen, könnten noch den einen oder anderen Teilnehmer unseres Heldengedichts aufstöbern. Wir haben vergeblich nach einem anderen Ausdruck für Heldengedicht gesucht. Gibt es ein solches im umgekehrten Sinn, nach dem Motto: wer verliert, gewinnt, etwa Anti-Heldengedicht? Das ist wohl das Wort.
Albert
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