Das Heerlager der Heiligen
zehn Minuten vor Mitternacht. Vor fünf Stunden waren die letzten Gesänge von Betrunkenen verstummt. Manchmal waren sie vom dumpfen Poltern eines Körpers begleitet, den Schlaf und Alkohol umgeworfen hatten. Einer dieser Rohlinge schien länger ausgehalten zu haben als die andern, denn gegen zehn Uhr abends hatte Iris Na-Chan noch schwach gestöhnt. Am Anfang hatte sie geschrien, als man Dio in die Toiletten im dritten Stock eingeschlossen hatte, wo er nun seit vierzig Stunden lag. Er war in einem Zustand völliger Entkräftung nahezu in Stumpfsinn verfallen. Sie hatte auch oft geheult. Aber ihr Heulen konnte das Lachen derer, die in der Bar des Hotels um sie herum waren, nicht übertönen. Dann hatte sie gefleht und Bruchstücke ihrer Bitten waren bis zu Clément Dio gedrungen, wenn der Chor der Betrunkenen für einen Augenblick verstummte. Schließlich hatte sie gelacht, als man sie zum Trinken nötigte. Dieses unnatürliche Lachen war Dio ins Herz gedrungen, so daß er nahezu leblos auf dem kalten Boden der Toilette lag. Seine Augen waren vom vielen Weinen ausgetrocknet. Während der letzten Stunden des Schreckenszustandes war das Lachen der Iris Nan-Chan allmählich in ein Stöhnen übergangen, welches Dio völlig durchbohrte. Der Radau hatte sich gelegt, wie bei einem Unwetter, dessen Höhepunkt die Verwüstung bildet. Die eingetretene Grabesstille wurde gegen 23 Uhr durch eine auf der Straße nebenan vorbeifahrende Lastwagenkolonne gestört, die der Küste zueilte. Es war offenbar das Marinekommando vom Paß La Faye, das in Stellung ging. Um 23 Uhr fünfzig hörte Dio Schritte. Zuerst auf der Treppe, dann auf dem Gang, der zu seinem Gefängnis führte …
Entgegen den sarkastischen Bemerkungen des Kapitäns des Marinekommandos hatte alles ganz gut angefangen. Vor dem Hotel Préjoly in Saint-Vallier hatte man allerdings Dios Auto angehalten. Zweifellos weil es rot, glänzend, verchromt und voller Lichter und Antennen war, dazu mit Leder gepolstert, also ein Luxusgegenstand, den die unglücklichen Gefangenen, die schon lange keine Verbindung mehr zu Raffinessen gehabt hatten, endlich mal mit ihren Fingern betasten konnten.
Dio hatte sich vorgestellt. Manche kannten ihn. Seine erfolgreichen Attacken zugunsten einer radikalen Humanisierung der Gefängnisse hatten ihn im Häftlingsmilieu berühmt gemacht. Man erinnerte sich an seinen Leitartikel, der den Strafvollzug geißelte:
»Die Strafgefangenen sind in unseren Augen politische Gefangene und Opfer eines gesellschaftlichen Systems, das sie erzeugt hat und sich weigert, sie umzuerziehen. Es genügt ihm, sie zu erniedrigen und zu verwerfen. Keiner von uns ist vor dem Gefängnis sicher. Heute weniger denn je, denn über unser Alltagsleben zieht sich das Polizeinetz immer enger zusammen. Man erzählt uns, die Gefängnisse seien überfüllt. Wie nun, wenn wir sagen, die Bevölkerung sei eingesperrt?«
Man hatte ihm zugejubelt und ihn dann mitgenommen, um auf die Freiheit ein Glas zu trinken. Er und seine Frau haben sich das gern gefallen lassen. Der Vorgang belustigte sie. Etliche hatten schon zuviel getrunken, besonders Araber und Schwarze. Die Bar war schmutzig und voller zerbrochener Flaschen und Gläser. Aber es herrschte eine kindlich fröhliche Stimmung, fast wie wenn an einem 14. Juli die Erstürmung der Bastille gefeiert wird. Dio, der ein Glas Rum in der Hand hatte, fragte, wie sie ins Innere dieser Bastille gelangt seien. Man erzählte ihm, Anlaß sei die Gangesflotte gewesen. Die Häftlinge hätten sich im Gefängnishof häufig darüber unterhalten, und sie hätten keine Zeile in den Zeitungen übersprungen. Am Abend steckte man auf einer Weltkarte den Weg der Flotte mit Fähnchen ab. Oft sei der Anstaltsgeistliche bei ihnen gewesen, um seiner Aufgabe gemäß mit ihnen zu sprechen. Er sah in ihr eine symbolische Messiasaufgabe gegenüber einer Million Köpfen. Das war eine einfache Darstellung, welche die überempfindlichen Gefangenen in Rührung versetzte und von ihnen sofort aufgegriffen wurde. Die Stimmung sei daher fast religiös geworden und zwar in so ungewöhnlicher Weise, daß die von abergläubischer Furcht befallenen Aufseher sich verkrochen und den täglichen Gefängnisdienst nur noch lässig versehen hätten. Alles sei dann ganz einfach abgelaufen. Am späten Abend des Karfreitag, als die Wachmannschaft in ihrer Unterkunft ruhte, um den gerechten Schlaf der Häftlinge nicht zu stören, hätte der Gefängnisgeistliche persönlich die Türen
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