Das heilige Buch der Werwölfe
sie um Hilfe, und sie rät dir, an etwas anderes zu denken. Wolken? Ach, das träumst du doch bloß …
Aber vielleicht hatte sie ja sogar Recht? Die Dinge standen durchaus nicht so schlecht, wie ich noch gestern angenommen hatte. Ich brannte darauf, jemandem von meiner unfreiwilligen Affäre zu erzählen. Bloß wem? Natürlich hätte ich irgendeinem Taxifahrer mein Herz ausschütten können, um ihm dieses Wissen anschließend wieder zu entziehen. Aber Mutwille im Straßenverkehr ist riskant. Nein, besser war es, ich wartete auf I Huli. In ihr würde ich eine aufmerksame Zuhörerin finden. Zumal sie sich schon so viele Jahrhunderte über meine Jungfräulichkeit lustig machte. Nun konnte ich sie endlich einmal in den Schatten stellen. Denn bei aller Raffinesse: So einen Lover hatte sie noch nie gehabt – von ihrem Yaksa-Dämonen im sechzehnten Jahrhundert vielleicht einmal abgesehen. Und selbst der musste im Vergleich zu Alexander mickrig erscheinen …
An dieser Stelle besann ich mich – der Brief des Schwesterleins erinnerte mich an das Wesentliche.
Wenn dich Jubel oder Traurigkeit im Alltag hinwegreißen wollen, dann ist für Übungen die beste Zeit – das war mir seit langem klar. Ich schaltete den Computer aus, breitete eine Gymnastikmatte aus Schaumstoff auf dem Fußboden aus. Hervorragend geeignet zum Meditieren, solche hatten wir früher leider nicht. Darüber kam ein mit Buchweizenspelzen gefülltes Kissen, auf dem ich im Lotossitz, mit hängendem Schweif, Platz nahm.
Die spirituelle Praxis der Werfüchse umfasst eine Kontemplation des Geistes und eine Kontemplation des Herzens. Heute wollte ich die Meditation mit der Kontemplation des Herzens beginnen. Das Herz spielt bei dieser Technik eine rein metaphorische Rolle. Die Krücken der Übersetzung: Das chinesische Schriftzeichen Sin hat vielerlei Bedeutungen, ein genauerer Ausdruck schiene mir hier die Kontemplation des tiefsten Inneren zu sein. Sieht man die Sache wiederum ganz praktisch, wäre Schweifziehen die zutreffende Bezeichnung.
Zieht man einen Hund oder eine Katze am Schwanz, fühlen sie Schmerz, das weiß jedes Kind. Zieht man einen Werfuchs kräftig am Schweif, geschieht etwas, das selbst der klügste unter den schwanzlosen Affen nicht einsehen wird: Ein Werfuchs fühlt in diesem Moment die ganze Bürde seiner Untaten. Das kommt, weil es der Schweif ist, mit dem er sie begeht. Und weil nun einmal jeder Werfuchs, von ein paar Blindgängern abgesehen, Leichen sonder Zahl im Keller hat, führt jedes Ziehen zu einem ungeheuren Gewissensbiss, begleitet von grauenerregenden Gesichten und niederschmetternden Visionen, bei denen man am liebsten seine Tage beschließen möchte. Die übrige Zeit werden wir vom Gewissen nicht behelligt.
Alles hängt hier davon ab, wie sehr und wie plötzlich man zieht. Auch wenn wir zum Beispiel während der Hühnerjagd (von ihr wird noch die Rede sein) mit dem Schweif an einem Busch hängen bleiben, regt sich das Gewissen ein wenig. Doch sind die betreffenden Muskeln während der Fortbewegung angespannt, was die Wirkung abmildert. Das Wesen der Kontemplation des Herzens als spiritueller Übung besteht nun darin, sich genau in dem Moment am Schweif zu ziehen, wo alle seine Muskeln maximal entspannt sind.
Das klingt viel einfacher, als es ist. Denn die Kontemplation des Herzens lässt sich von der Kontemplation des Geistes nicht trennen; um diese Technik korrekt auszuführen, muss man das Bewusstsein in drei autonome Ströme kanalisieren:
1. Bewusstseinsstrom 1 – das ist der Geist, der sich an all seine dunklen Machenschaften seit undenklichen Zeiten erinnert;
2. Bewusstseinsstrom 2 – das ist der Geist, der den Werfuchs dazu bringt, sich spontan und überraschend am Schweif zu ziehen;
3. Bewusstseinsstrom 3 – das ist der Geist, der entrückt auf die Ströme 1 und 2 achthat und auf sich selbst noch dazu.
Bewusstseinsstrom 3 lässt sich, wenn man es nicht zu genau nimmt, als Kern einer Kontemplation des Geistes ansehen. All diese Praktiken sind Vorstufen, man muss sie tausend Jahre lang ausüben, ehe man zum Eigentlichen kommen kann, jener Übung, die Schweif der Leere oder auch Kunstlosigkeit geheißen wird. Eine Geheimtechnik, über die nicht einmal erfahrene Werfüchse richtig Bescheid wissen, die wie ich den tausendjährigen Vorbereitungszyklus längst durchlaufen haben.
Ich nahm also den Lotossitz ein, legte die linke Hand auf das Knie, die rechte an den Schweif. Konzentrierte mich. Begann
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