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Das helle Gesicht

Das helle Gesicht

Titel: Das helle Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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Stadt hat er gereicht. Da hat ihn mir einer zu Schrott gefahren.«
    Damit war das Zwischenspiel abgetan. Harry zog die Straßenkarte von California an sich und studierte. Hätte er sich auch gleich denken können, daß es etwas bedeutete, wenn Ball sie mitbrachte. Er hatte keinen guten Tag heute. Vater Inya-he-yukan hatte immer noch mehr gekonnt, als die Leute ihm etwa zutrauten, das war indianisch. Harry schob die Karte Wakiya hin. Der mußte von kalifornischen Straßen am meisten verstehen. Aber fuhr er mit?
    »Diesmal nicht«, sagte Wakiya-knaskiya, und obgleich er sich Mühe gab, seinen Kummer über seinen Gesundheitszustand zu verbergen, gelang es ihm nicht ganz.
    »Bin ich im Wege?« fragte Percival.
    »Nein, du mußt den Jaguar fahren. Kannst du ja.«
    Das ließ sich nicht leugnen.
     
    Drei Tage später stand die kleine Expedition zur Abfahrt bereit. Harry und Mary hatten sich bei Hanska und Ite-ska-wih auf der Rückbank angesiedelt. Wakiya hatte schließlich Percivals Drängen doch noch nachgegeben und saß bei diesem auf dem Beifahrersitz.
    Die Fahrt begann, wie es auch Inya-he-yukan und Tashina stets gehalten hatten, im ersten Morgengrauen. Dünner Nebel lagerte über dem hitzegequälten Land und kühlte mit Tau die letzten noch lebenden Gräser. Hanska, der voranfuhr, wählte wie einst sein Wahlvater bei den Herbstreisen nach Kanada nicht die direkte Route über die Agentursiedlung und New City, sondern fuhr in die Bad Lands ein, an deren Grenze der kahle Berg mit Dorothys Haus und Ranch lag. Man hielt sich nicht auf, doch Ite-ska-wih konnte nicht umhin, solange es die Geschwindigkeit des Wagens erlaubte, nach Berg, Bach und Haus zu schauen, die für ihre ersten Erlebnisse in der Prärie bedeutsam geworden waren. Wie weit lag das alles zurück und war doch wiederum so nah.
    Aber alles Bewohnte verschwand schnell. Zum erstenmal in ihrem Leben tauchte Ite-ska-wih in die einsam schauerliche Machtsphäre von der Natur vollständig vernichteten Lebens ein. Keine Pflanze, kein Tier, kein Wasser existierte hier mehr zwischen Gipfeln, Steilhängen, Einschnitten, Schluchten, zwischen rotem, gelbem, bläulich schillerndem abbröckelndem Gestein, an dem weder Huf noch Fuß, noch Hand noch Wurzeln sich halten konnten. Leblos war alles; die Erde schien keine Mutter mehr zu sein. Sie zerstörte sich selbst. Seltene Reste irgendeines versteinerten Knochens verrieten, daß einstmals, vor Jahrtausenden, hier noch Leben gewesen war, sich noch etwas gerührt, noch etwas geweidet hatte. Vorbei – vorbei.
    Die Geister, die Watschitschun, hatten eine Straße gebaut, eine kahle Straße zwischen unfruchtbaren Hängen und Abgründen, die die Wagen der Touristen durch das tote Land trug. Auch das Sterben der Natur, der Tod des Lebens war noch schön, weil er in seinem vollständigen Schweigen erhaben war über kleines Fühlen, kleines Denken, kleines Schwatzen. Nur der Wind war hier noch ruhelos zwischen todesruhig Gewordenem, und nur er hatte hier noch eine Stimme in der Natur. Nicht einmal Steine kollerten; nur Sand rieselte ab, roter, gelber, bläulicher.
    Auch die Stadt, dachte Ite-ska-wih, ist der Tod der Natur, der Pflanzen, der Tiere, sie vergiftet die Mutter Erde. Aber erhaben ist sie nicht, denn sie kann nicht still sein.
    Die Wagen verließen die Bad Lands und strebten den Black Hills zu, der bergigen Waldinsel in der Prärie, dem heiligen Stammland. Bisher hatte niemand gesprochen, und auch jetzt sprach niemand. Alles, was Großväter, Großmütter, Väter und Mütter den Kindern erzählt hatten, wurde in Gedankenbildern lebendig: die Geschichte, wie der Stamm dieses sein Land einst gefunden hatte, die Geschichte seines Lebens in Wald und Prärie, die Geschichte der Jagden, die Geschichte der Feste, die Geschichte der Zelte, die Geschichte der Kämpfe und Siege, der Kämpfe und Niederlagen, der Vertreibung, weil die Watschitschun gierig waren nach Gold und alle Verträge brachen, die Geschichte der Söhne und Töchter der Großen Bärin.
    Ite-ska-wih sog den Harzduft der Kiefern ein, hörte das Klickern von Bergbächen und atmete Wind, der vom Wasser kam, ruhte mit den andern im Moos. Sie bedeckte die Augen mit den Händen, um bei Inya-he-yukan zu sein, von dem sie wußte, wo er unvergänglich ruhte, und um bei Tashina zu sein, die sie nie gesehen hatte und doch kannte und die an unbekannter Stelle in diesen Bergen verscharrt war, Inya-he-yukan nicht zu fern. Ihre Geister, die die große Straße wanderten, waren doch

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