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Das helle Gesicht

Das helle Gesicht

Titel: Das helle Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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ihn die Biber beobachten. Sie erzählte ihm das Märchen vom Steinknaben, der steinhart, selbst unverletzlich, gegen alle großen Tiere gewütet und sie gemordet hatte. Bären, Wölfe, Büffel waren in großen Herden gegen ihn gezogen, um seinem Treiben ein Ende zu setzen, aber sie alle unterlagen dem Steinknaben, der sich eine Erdburg gebaut hatte und seine Pfeile treffsicher versandte.
    Iliff war traurig. Er war ein schwächlicher Bub geblieben, klug, aber leicht zu erschrecken. Die Wirkung der Jahre, die er als Waise im Internat, von seinen Geschwistern Tatokala und Gerald getrennt, bis zu seinem Selbstmordversuch hatte verbringen müssen, war nicht mehr auszugleichen.
    »Er hat sie getötet«, sagte er jetzt leise, »wie ein Killer. Hat niemand den Tieren geholfen?«
    »Niemand«, antwortete Ena-ina-yin, »aber die Tiere haben sich selbst geholfen.«
    »Wie? Wie haben sie es gemacht?«
    »Das will ich dir erzählen, Iliff. Sieh den Bibern zu, wie geschickt sie bauen, und schau dir ihre klugen Gesichter an. Als der Steinknabe wie ein Killer die großen Tiere mordete, begann ein alter Biber zu sprechen. Er sagte: Die großen Tiere werden getötet; das Wasser unseres Baches ist rot von ihrem Blut. Wir Kleinen müssen uns selbst schützen und den Großen helfen.«
    »Aber wie?« fragte Iliff in die Pause hinein. »Wie sollten die Kleinen den Großen helfen?«
    »Der alte Biber wußte es, Kind. Die kleinen Tiere müssen sich zusammentun, sagte der weise Biber. Biber, Dachse, Präriehunde und alle anderen, die graben können. Ich rufe euch! sagte er. Kommt und helft! Und sie kamen alle, aus der Prärie und aus den Bergen, von den Flüssen und von den Seen. Heimlich gruben sie unterirdische Gänge in die Burg des Steinknaben und leiteten das Wasser der Flüsse und Bäche hinein.«
    Iliffs Wangen wurden heiß. »Und dann?«
    »Dem Steinknaben wurde unheimlich zumute. Er spürte, wie die Wälle seiner Burg unter ihm wegsanken und wie das Wasser unter seinen Füßen gurgelte. Er sank ein, tiefer und tiefer, bis er sich nicht mehr rühren konnte. Nun war er nicht nur steinhart, er wurde ganz zu Stein. Keinen Finger, keinen Zeh konnte er mehr bewegen. So mußte er festgebannt stehen.«
    »Wie lange?«
    »Für immer und ewig; Erde und Wasser verschlangen ihn. Denke darüber nach, Iliff, und sei immer gut zu den Bibern.«
    »Hau.«
    Es ging gegen Abend. Ena-ina-yin wollte mit dem Jungen in das Blockhaus zurückgehen. Vielleicht schlich sich in dieser Nacht einer aus dem Ring heraus und kam, um Lebensmittel zu holen – oder vielleicht schlich sich Tatokala in der Dunkelheit hinein, um den Eingeschlossenen Medikamente zu bringen, und gelangte auf einem anderen Schleichweg wieder heraus. Das Blockhaus am kahlen Berg, in dem Ena-ina-yin jetzt wohnte, war eine Geheimstation für den Verkehr mit den Aufständischen. Sie hielt stets Kaffee bereit für Erschöpfte und für Wagemutige. Ihre eigene Blockhütte beim Sumpfloch war deshalb verwüstet worden. Die alte Frau, die die Obdachlose aufgenommen hatte, war die Mutter eines Malers und angehenden Geheimnismannes, aber sein weißes Zelt neben dem Blockhaus stand leer; er war auf Reisen gegangen. Die Killer hatten die alte Frau und die Blockhütte bisher nicht beachtet. Doch vielleicht änderte sich das jetzt, nachdem Ena-ina-yin eingezogen war, die Mutter Waseschas. Die alte Frau und Ena hatten ihre Guns zu Hause und stets zu Hand. Sie besaßen halbwilde wachsame Hunde und vier wachsame Pferde.
    Eben, als Ena-ina-yin mit Iliff ins Haus eintreten wollte, wurden die Hunde unruhig. Der Leithund spitzte die Ohren und knurrte leise und sehr böse. Ena-ina-yin verschwand mit dem Buben schnell im Haus, verschloß die Tür leise, nahm ihr Gun aus den Haken, in denen es über der Tür lag. Die Alte folgte sofort ihrem Beispiel: Iliff legte sich auf den Boden unter einer Wandbank, wie er für solche Fälle gelehrt worden war.
    Auch wer scharfe Ohren hatte, konnte noch nichts hören.
    Aber auf einmal tauchten sie in den Wiesen auf, eine Menge Leute waren es.
    Die Frauen legten die Gewehre an ihren Platz zurück und öffneten. Sie freuten sich. Iliff kroch sofort aus seinem Versteck hervor und freute sich mit. Hanska kam! Die Ankömmlinge waren müde; man merkte es ihnen an, wenn sie es auch nicht zeigen wollten. Die alte Frau schürte schon den Herd, um Kaffee zu kochen. Ena-ina-yin setzte sich mit den Gästen auf die Wandbank an den großen derben Tisch.
    Hanska schaute Ena-ina-yin aus den

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