Das Herz der 6. Armee
Körner sah auf seine Uhr. 23.27 Uhr. Die Operation hatte kaum eine halbe Stunde gedauert. Wallritz kroch hinter ihm her, die Hand schützend über seinem kleinen Luftballon in der Brust. Nach Mitternacht waren sie auf der Straße zum Flugplatz Gumrak. An einem dicken Strick zog Dr. Körner eine Trage wie einen Schlitten durch den Schnee. Auf ihr lag Wallritz, mit den Mänteln von drei Toten zugedeckt und eingewickelt. An ihnen vorbei ratterten Lkw und Panzer, Motorräder und Pferdewagen. Sie wurden mit Schnee und Eis bespritzt und mit Flüchen überschüttet. Aber niemand hielt an, niemand nahm den Mann auf der Trage mit, den ein junger Arzt durch den Schnee zog, umheult vom Steppenwind, mit vereistem Gesicht und gefühllosen Beinen. Hunderte, Tausende marschierten, schwankten, krochen und wälzten sich über die Straße zum Flugplatz, hangelten an haltenden Autos hoch und sprangen die nach rückwärts fahrenden Panzer an wie Raubkatzen. Nur zurück … zurück … nach Westen … weg aus der Stadt, weg aus dem Ring, der sich immer enger zog … zum Flugplatz … zum Flugplatz … zur letzten Hoffnung …
Nach einer Stunde saß Dr. Körner erschöpft auf einem Eishügel am Rande der Straße. Er konnte nicht mehr weiter. Die Steppe, die Schneewüste, die Fahrzeuge drehten sich vor seinen Augen, sie wurden rosa und blau und gestreift und gefleckt. Er schrak auf, als ihn eine Welle Schnee und Dreck überschüttete. Ein Autokühler ragte blubbernd und schwankend vor ihm auf.
»Lad dinge Patient än …«, rief jemand im breitesten Kölsch. »Äwwer mach schnell, sonst kumme die anderen ooch …«
Dr. Körner faßte Wallritz unter wie ein Kind. Er schwankte mit ihm um den Wagen herum, vier Arme griffen zu, hoben den Körper unter die Zeltplane. Der Motor heulte auf.
»Leb wohl …«, schrie Dr. Körner und hob die Hand. Er sah die großen Augen von Wallritz auf sich gerichtet, er sah, daß er etwas zurückschrie, aber es ging unter im Heulen des Motors und im Anfahren der Räder. Wieder überschüttete ihn ein Schwall von Schnee, Eis und Dreck … die Plane fiel über den Einstieg, der Wagen ratterte weiter.
»Aus dem Weg, du Rindvieh!« brüllte jemand. Eine Kolonne Kradfahrer brauste an ihm vorbei.
Zwischen Benzinfässern und Säcken mit MG-Munition lag Horst Wallritz, beide Hände über sein Gummiventil gewölbt. Sie fahren durch bis Pitomnik, dachte er. Sie haben es mir gerade gesagt. Und in Pitomnik ist es leichter, eine Maschine zu bekommen. In Pitomnik landen dreimal mehr Maschinen als in Gumrak.
Er drehte den Kopf zur Seite, preßte die Stirn gegen einen Benzinkanister und weinte.
Emil Rottmann blieb verschwunden.
Bei der Rückkehr nach Stalingrad fehlte er. Dr. Portner machte die vorschriftsmäßige Meldung über die Verwundung des Sanitätsfeldwebels Wallritz. Emil Rottmann meldete er als vermißt oder versprengt. Er wollte keine Schwierigkeiten haben mit der Äußerung des Verdachts auf Fahnenflucht.
Am Abend des 31. Dezember 1942 bekam das Lazarett in den Kellern des Kinos von Stalingrad Besuch.
Der Wehrmachtsbericht hatte an diesem Tag nur einen einzigen Satz für die sterbende 6. Armee übrig: »Transportverbände der Luftwaffe versorgten vorgeschobene Kräftegruppen …« Nicht mehr. Es war genug. Zum Jahreswechsel klingt es nicht gut, wenn man sagen würde: 300.000 deutsche Soldaten gehen ihrer Vernichtung entgegen. Die Lage an der gesamten Stalingrad-Front war hoffnungslos. Die 8. italienische Armee war nur noch ein Fragment, ein loser, aufgerissener Haufen angstschlotternder Sonnenkinder, die bei 40 Grad Kälte in Eislöchern lagen und von der Adria träumten. Bei den Heeresgruppen A und B war es nicht anders … die Kaukasus-Front sollte geräumt werden, an Donez und Tschir drängten die Sowjets, die rumänischen Einheiten mußten aus der Front gezogen werden, da sie kompanieweise überliefen oder einfach die Waffen wegwarfen, die Heeresgruppe ›Don‹ wartete mit angehaltenem Atem auf die kommende russische Offensive, die das Ende bedeuten würde … und im Kessel begann man, Suppen aus Sägemehl zu kochen und Pudding aus Fußpuder.
Am Abend des 31. Dezember 1942 traf der Neujahrsgruß aus dem Führerhauptquartier ein. Ein Funkspruch:
»Die 6. Armee hat mein Wort, daß alles geschieht, um sie herauszuhauen.
Adolf Hitler«
Über das Radio kam auch der Wortlaut des Neujahrsspruches, den Hitler an Generaloberst Zeitzler, den Chef des Oberkommandos des Heeres, sandte. In den Kellern und
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