Das Herz der 6. Armee
Stunde und beobachtete den Betrieb. Er sah, wie fremde Ärzte in das Zelt gingen und es wieder verließen, zwei Lastwagen mit neuen aufgerissenen Leibern fuhren vor, jemand brüllte: »Weiterfahren! Weiterfahren! Zu Lazarett VI! Unsere Müllkippe ist voll!«, ein einsamer Tiger-Panzer mit halbem Turm ratterte vor und lud einen kopfverletzten Leutnant aus, es war nicht mehr zu kontrollieren, wer nun zum Lazarett gehörte und wer nicht.
Das nutzte Dr. Körner aus. Er rannte in das Zelt, geradewegs auf den Oberfeldwebel am Schreibtisch zu und streckte die Hand aus.
»Los, geben Sie mir so 'nen Wisch! Da hat ein Kerl den Zettel vollgekotzt!«
Der Oberfeldwebel sah gar nicht auf. Er reichte den Transportzettel, aber er malte gewissenhaft einen Strich auf ein Stück Papier. Für heute hundert ›Lebensbillets‹, mehr gab es nicht. Man kontingentiert das Leben. Aber auch diese hundert waren sinnlos. Die Flugplatzkommandanten von Gumrak und Pitomnik schrien und brüllten, weil das Heer der Verwundeten die Startbahnen blockierte und die Maschinen stürmte, sobald sie ausgerollt waren.
»Ich … ich tue es nicht«, sagte Wallritz, als Dr. Körner mit dem ›Lebensbillet‹ zurückkam. »Vielleicht waren es von Rottmann nur leere Drohungen.«
»Wollen Sie darauf warten? Los! Sie haben Ihre Mutter, für die Sie weiterleben müssen. Das ist ein Ziel! Ich habe keines mehr, auf mich wartet niemand … Kommen Sie …«
Was nun folgte, war gespenstisch.
Zwischen den niedergebrochenen Balken eines Geräteschuppens kniete Dr. Körner vor Wallritz. Der Feldwebel lag auf seinem Mantel, die Brust entblößt, zitternd vor Kälte und Erregung. Dr. Körner hatte sein chirurgisches Notbesteck neben sich auf einer Lage Zellstoff ausgebreitet und schnitt einen Finger seiner Gummihandschuhe ab.
»Wird es nicht auffallen?« keuchte Wallritz.
»Nicht, bis Sie jenseits des Kessels sind. Dort müssen Sie sich weiterhelfen. Melden Sie sich als Versprengter … Was man auch mit Ihnen macht, eines ist sicher: Sie kommen nie mehr nach Stalingrad zurück! Man wird Sie in irgendeinem Lazarett einsetzen und froh sein, einen Fachmann mehr zu haben.«
Dr. Körner entzündete ein Hindenburglicht und stellte es auf einen Balken über den Kopf von Wallritz. Dann beugte er sich vor und rieb mit harten Händen die eiskalte Brust des Feldwebels warm.
»Ich werde Ihnen keine Anästhesie machen«, sagte er dabei. »Sie müssen den Schmerz aushalten. Und wenn Sie sich die Zähne abbrechen … beißen Sie sie zusammen …«
Wallritz nickte stumm.
»Ich täusche bei Ihnen einen Lungenschuß vor«, sagte Dr. Körner.
»Einen was?«
»Lungenschuß. Jeder Arzt, der Sie nur ansieht, wird Sie sofort weiterleiten. Und jetzt halten Sie still, Wallritz. Beißen Sie die Zähne zusammen.«
Den ersten Schnitt spürte Wallritz nicht sonderlich. Dr. Körners Skalpell machte in die rechte obere Brustwand einen 6 cm langen Schnitt durch Haut und Muskulatur. Erst als Dr. Körner daranging, mit einigen weiteren Schnitten Haut und Muskulatur mitzunehmen, die Wunde aufzufetzen, daß sie wie ein Schuß aussah, und dann wieder säuberte, jagte der Schmerz Wallritz bis ins Gehirn. Er stöhnte und warf den Kopf auf dem nassen Mantel hin und her.
»Es wäre gut, wenn Sie ohnmächtig würden«, sagte Dr. Körner ruhig. »Denn jetzt geht es erst los.«
Mit einem selbsthaltenden Haken spreizte er die Schnittwunde. Dann legte er zwischen zwei Rippen einen kleinen Schnitt an, entfernte etwas Haut, indem er eine Hautfalte mit der Pinzette aufhob und am Grunde der Falte das hochgezerrte Hautstück abschnitt.
Dieser Schnitt war kritisch. Er ging in die Tiefe des Brustkorbes. Dr. Körner hatte deshalb, bevor er die Hautfalte anschnitt, eine lose Naht um die künstliche Schußwunde gelegt … er zog diese Naht sofort zu, bevor er die Hautfalte herauspräparierte.
Wallritz lag kalkweiß und hatte die Augen geschlossen. Dr. Körner tastete nach seinen Lidern. Wallritz schüttelte den Kopf.
»Ich bin wach, Herr Assistenzarzt …«
»Die Schußwunde haben wir. Nun machen wir sie zu, und dann kommt der Trick.«
Dr. Körner vernähte die Wunde schichtweise und klebte ein Heftpflaster darüber.
Es begann heftig zu schneien. Zwischen die Balken des zerschossenen Geräteschuppens wirbelten die dicken Flocken und legten sich über die nackte Brust Wallritz'. Die armselige Kerze über seinem Kopf flackerte.
Draußen, auf der Straße zum Flugplatz, gab es einen Krach. Ein
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