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Das Herz der 6. Armee

Das Herz der 6. Armee

Titel: Das Herz der 6. Armee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Kaljonin in der Ruinenwüste von Stalingrad. Niemand hat ihn wiedergesehen … wenigstens keiner der Rotarmisten. In der Verlustliste des nächsten Tages wurde er als vermißt aufgeführt. Das war nichts Neues … so viele galten als vermißt, deren Körper unter den niederstürzenden Mauern plattgequetscht wurden. Nur für Olga Pannarewskaja war er nicht gestorben … aber sie schwieg.
    Das Lazarett unter dem Kino, die feuchten Kellergewölbe, in denen das Tropfwasser in den Rissen gefror, war mit über achthundert Verwundeten vollgestopft, als Dr. Portner zurückkam. Eine Woge von Gestank aus Eiter, faulen Gliedmaßen, Kot, Schweiß, Blut, Jodoform und Verwesung schlugen ihm entgegen. Es gab keine Gänge mehr, keine Treppe, keine Liegeordnung. Sie lagen übereinander wie Holzklötze, sie pflasterten die Treppe mit schreienden Leibern, mit brandigen Wunden, mit abfaulenden Gliedern, mit Wahnsinn und Beten. Fleckfieber ließ sie toben oder apathisch werden, Geschwüre brachen auf wie Krater, aus den aufgerissenen Bäuchen quollen die Därme. Männer mit halben Gesichtern krochen herum und schrien wie Tiere, die zerrissenen Körper quollen auf wie Wasserleichen.
    Zwischen diesem Sterben, zwischen den Fluchenden und Betenden, Weinenden und Tobenden, zwischen Wahnsinn und Ergebenheit saß, stand oder ging Pfarrer Webern und tröstete. Er betete nicht mehr … er konnte es einfach nicht. Ihm fehlten die Worte, dieses Grauen zu überdecken. Selbst Gottes Sprache versagte … er hatte nie daran gedacht, daß Menschen einmal solcherart die für sie geschaffene Welt verlassen könnten. Nun mußte selbst Gott schweigen. Was Pfarrer Webern tat, war ein letzter, fast stummer Dienst. Er drückte die zuckenden, fieberheißen Hände, er schob die Lider über die gebrochenen Augen, er hielt sein kleines Brustkreuz hoch und segnete, er sprach nicht mehr von der ewigen Seligkeit, er hörte zu, wie die Sterbenden nach ihrer Frau, nach ihrer Mutter wimmerten, wie sie nach Briefpapier schrien, um zu schreiben mit Händen, die sie nicht mehr hatten, wie sie sich an ihn klammerten und fragten: »Herr Pfarrer, nicht wahr, ich werde weiterleben …«, und ihre Beine faulten bereits, und die Haut löste sich von den Körpern, und er nickte und sagte: »Ja, mein Sohn, du wirst weiterleben …« Und dann starben sie, die einen noch im letzten Atemzug grell schreiend, die anderen stumm, mit großen, nicht verstehenden Augen.
    Dr. Portner kämpfte sich bis zum Operationskeller durch. Er mußte über die Körper gehen, die unter ihm aufbrüllten, die mit Fäusten an seine Beine schlugen, die seine Stiefel umklammerten, die nach ihm bissen wie tollwütige Ratten.
    Im Operationskeller war etwas mehr Ordnung. Hier standen drei Unterärzte an den Tischen und verbanden. Operieren hatte keinen Zweck mehr. Wohin mit den abgetrennten Gliedern, wohin mit den Frischoperierten? Warum noch amputieren? Es starb sich mit abgerissener Hand genausogut wie mit einem Stumpf. Auch die Unterschiede waren verwischt … ob Offizier oder Landser, sie alle lagen neben- und übereinander, schreiend und wimmernd, sich aneinanderkrallend, als ertränken sie im eigenen Blut.
    Dr. Portner setzte sich erschöpft auf einen Hocker an die Wand. Knösel und Rottmann blieben im Nebenkeller. Der Feldwebel der Feldgendarmerie, gelbblaß, sah sich um. Das hundertfache Sterben ringsum ließ ihn ahnen, wie er selbst enden würde.
    »Wenn … wenn ich das gewußt hätte, Kumpel …«, stotterte er. Knösel saß auf seinem organisierten Stoffballen und stierte auf die Sterbenden.
    »Was?« fragte er.
    »Wie das alles kommt …«
    »Det haste doch jewußt.«
    »Ich habe gedacht … mein Gott … was soll jetzt werden …«
    »Sieh se dir an … So liegste auch bald da …«
    Rottmann zitterte wie im Schüttelfrost. Seine Zähne klapperten laut. Er wandte sich ab, er suchte wegzukommen, aber überall lagen die Körper, röchelten Leiber, zuckten Glieder, schrien Münder. Da beugte er sich vor und erbrach sich. Er konnte es nicht mehr anhalten, er spürte, wie sich sein Magen nach oben drehte, und er kotzte, nach vorn gebeugt, über die Körper, die unter ihm lagen. Sie rührten sich nicht, sie atmeten noch, aber ihre Augen waren schon gestorben.
    Ein paar leichter Verwundete starrten Emil Rottmann an wie ein Weltwunder. Der kann noch kotzen, dachten sie. Wer kotzen kann, hat was zu fressen gehabt. Wo gibt es hier noch was zu fressen? Am Bahndamm haben sie die Schienen herausgerissen, die

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