Das Herz der 6. Armee
Schmerzen kam, ohne zerfetzte Leiber, ohne langes Dahinfiebern, ohne Eiter, ohne Wundbrand, ohne das Entsetzen des langsamen Verfaulens. Das ›Herz der 6. Armee‹ wurde zum Wunschtod … und doch waren es nur stille, heimliche Gedanken, denn so kraftlos die Körper waren, so verhungert und erfroren, eingekreist von Feinden, die jede Stunde Meter um Meter der Stadt zurückeroberten, in diesen kaum noch menschlichen, vermummten, eisbehangenen Leibern flackerte noch immer ein Funken von Lebenswillen. Er zwang sie an die Gewehre, bis die letzte Patrone aus dem Lauf gefeuert war … dann drehte sie das Gewehr um, umklammerten den Lauf und hieben mit den Kolben auf die Schädel der Rotarmisten. Sie fragten nicht mehr: Warum? Sie kümmerten sich nicht mehr darum, daß alles so sinnlos war, jeder Schuß, jeder gerettete Tag, jede verschossene Stunde … sie konnten nicht mehr denken, sie waren Wesen aus Muskeln, Sehnen und einer nervlichen Befehlszentrale, und diese Zentrale jagte durch sie den Befehl: Du willst leben! Leben! Weiterleben! Und nach dem alten, mit dem Verstand nicht greifbaren Naturgesetz heißt Überleben soviel wie Kampf. Also kämpften sie, mit blinden Augen, mit leeren Hirnen, mit geschrumpften Mägen, kämpften um das nackte Leben, das Weiteratmen. Später würde man sagen, sie waren Helden … sie können sich dagegen nicht mehr wehren, und die Nachwelt lebt seit jeher vom geschichtlichen Betrug! Wenn es jemals eine verzweifelte Kreatur gegeben hat, dann waren es die 135.000 deutschen Männer, die vom 26. Januar 1943 ab in drei aufgespaltenen Kesseln den wahren Sinn der Worte erlebten: Es ist so schön, Soldat zu sein …
Dr. Portner war der erste, der wieder sprach, nachdem sich die Staubwolke verzogen hatte.
»Verschüttet –«, sagte er leise.
Dr. Sukow nickte. »So sparen wir Gräber …«
»Sie sind von einem beneidenswerten praktischen Sinn.«
Dr. Portner lehnte sich an die Kellerwand. »Sind Sie schon mal erstickt?«
»Njet. Sie?« Sukow lächelte verzerrt.
»Fast. Im Ersten Weltkrieg. Vor Verdun. Im Chaume-Wald. Ich saß in einem Balkenunterstand, und eine 10,5-Granate hieb mitten drauf. Zwei Tage lag ich eingeklemmt unter der Erde, in einer sogenannten Luftblase. Dann fand man mich. Ich habe drei Monate nicht sprechen können und konnte in keinem dunklen Zimmer mehr schlafen. Wenn es Nacht wurde, saß ich unter zwei Lampen und mußte ins Licht starren. Ich konnte nichts Dunkles mehr sehen …« Dr. Portner schloß die Augen. Müde bin ich, dachte er. Müde, daß ich umfallen möchte und sterben. Wie schön kann Sterben sein, ich hätte das nie gedacht. »Aber damals war ich allein …« Seine Stimme schwankte. »Heute habe ich 3.500 Männer um mich …«
In den OP-Keller stürmte Oberst von der Haagen. Er sah wie ein Irrer aus, unter den zerwühlten weißen Haaren quollen die Augen aus den Höhlen.
»Wir sind verschüttet!« schrie er grell. »Doktor! Wir werden ersticken! Ersticken! Wir werden …« Er taumelte an die Wand, weil Dr. Sukow ihn mit einer Handbewegung von der Tür schleuderte und sie zutrat.
»Wollen Sie Panik?« rief er dabei. Von der Haagen ballte die Fäuste.
»Sie wagen es, als Russe mich anzureden?!« brüllte er. »Sie fassen mich an?! Noch sind Sie nicht Sieger! Noch gehört Stalingrad uns! Herr Stabsarzt Portner … wenn wir hier alle ersticken, sind Sie allein der Verantwortliche! Sie haben für keine Notausgänge gesorgt, Sie haben uns alle in eine Mausefalle gesteckt …«
»Verstehen Sie jetzt, Kollege, warum der Deutsche in der Welt so ›beliebt‹ ist?!« fragte Dr. Portner ruhig Dr. Sukow. »Begreifen Sie nun auch, was aus der Welt werden würde, wenn wir den Krieg gewännen?! Glauben Sie nicht, dieser Oberst da …«, und plötzlich brüllte er, »… dieser Scheißkerl da, dieses feige Schwein mit der Schnauze eines Bullen und dem Hirn eines Frosches stehe allein da! Davon gibt es genug bei uns … davon hat es genug gegeben und wird es auch wieder genug geben, denn das, was man echtes Preußentum nennt, stirbt nicht aus!«
»Es gibt auch andere …«, sagte Dr. Sukow tadelnd.
»Stimmt. Ich kenne ein paar. General Gebhardt etwa. Aber das waren immer die Außenseiter, die im Offizierskorps hinterrücks belächelt wurden als Schleimscheißer und Stiefelwichser. Die da«, er zeigte mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger auf den bebenden Oberst von der Haagen, »diese Hurrasoldaten, die entweder im Hinterland von der Eroberung Wladiwostoks träumen,
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