Das Herz der 6. Armee
verraten könnte, dachte er. Sie ist zurückgekommen, sie lebt, sie ist bei mir … und wenn es nur Stunden sind, die uns bleiben … es stirbt sich in dieser Art von Glück leichter als in hilfloser Verzweiflung.
Sie schleppten Rottmann aus dem Unterstand und standen neben Olga aufrecht in den Trümmern. Es war nicht allein die Kälte, die Knösel Schauer über den Rücken jagte … er sah sich scheu um und wußte, daß ihn in dieser Riesenwüste aus Stein und Beton jetzt viele Augen anstarrten, erstaunt, daß eine sowjetische Kapitänärztin für einige Minuten den Krieg einstellte, um drei Deutsche sicher wegzubringen. Für Knösel waren diese Minuten schrecklicher als alle überlebten Trommelfeuer. Das Undenkbare, aufrecht vor den Russen herzugehen, war für ihn wie ein Märchen. Es war eigentlich die Nummer 3 in Knösels Erlebnisalbum, das ihm nicht geglaubt werden würde, wenn er es erzählte … erst das küssende Liebespaar in den Trümmern, dann der Elefant und jetzt ein Spaziergang quer an den Mündungen sowjetischer MPs und Granatwerfern vorbei, ohne daß ein einziger Laut ihn störte. Die Pannarewskaja ging ihnen voraus, die rote Fahne mit dem grünen Kreuz hochhaltend, wie bei einem Umzug am 1. Mai oder am Oktobertag der Revolution.
So erreichten sie das ehemalige Kino. Eine zerborstene Hauswand schützte sie jetzt vor Feindeinsicht. Olga ließ die Fahne sinken. In den umgewühlten Trümmern arbeiteten verdreckte, schwankende stumme Gestalten mit totenkopfähnlichen Gesichtern, schoben Steine weg, wälzten Betonstücke zur Seite, stemmten sich gegen armierte Decken und Eisenträger.
Der Kellereingang zum Feldlazarett III war verschüttet worden, wie Knösel es geahnt hatte. Von unten arbeiteten sie sich mit der gleichen stummen Verbissenheit vor wie die Überlebenden oben in den Kinotrümmern. Daß sie die Feuerwalze überlebt hatten, verdankten sie den Toten. Als die Wand aus Flammen und Stahl auf sie zukam, krochen sie in die berühmten Grabtrichter Dr. Portners. Es waren mittlerweile zwölf Stück geworden, große Granatlöcher, in denen die steifgefrorenen Toten schichtweise übereinander lagen, wie gestapelte Bretter, mit offenen Mündern, bleckenden Zähnen, hochgereckten Armstümpfen, aufgeplatzten Bäuchen … alles im Eis konserviert, Blöcke mit bizarren, teuflischen Ornamenten. Noch im Tode waren sie nützlich … die Männer oben in den Kinoruinen wühlten sich zwischen die Toten, schoben die Eisbretter mit den Menschengesichtern über sich, krochen wie Küchenschaben in die Ritzen zwischen den Leibern, bauten sich Schutzdächer aus steinhartem, zerfetztem Gefrierfleisch. So überdauerten sie die Feuerwalze, die Splitter hieben singend in die Eisgestalten, sprangen ab, sirrten als Querschläger in die Steine. Dann war die Hölle vorbeigezogen, der Kellereingang verschüttet, und ohne Befehl, weil es selbstverständlich war, begannen die lebenden Leichname, den Keller wieder freizulegen.
Unten im Labyrinth der Kellerräume nahm man die Verschüttung kaum wahr. An das Beben der Erde, an Detonationen, an das Schwanken der Wände hatte man sich längst gewöhnt. Daß es in diesen Minuten etwas lauter krachte … wen kümmerte es noch? Hier lagen über 3.500 Sterbende, Fiebernde, Wimmernde und Apathische, starrten gegen die Decke und dachten an nichts mehr als an das, was ihnen von einem hoffnungsreichen Leben geblieben war: Wie das Bein brennt … wie der Kopf hämmert … mein Leib, oh, mein Leib … Ich kriege keine Luft mehr, Luft, Luft … Ich verblute, Kinder, ich verblute … Mutter, Mutter …
Wie klein ist dagegen ein Krach an der Decke und eine Wolke von Staub, die kurz darauf durch die ersten vorderen Kellerräume quoll. Dr. Portner und Dr. Sukow erkannten die Lage. Ihre Gesichter waren eingefallen und blaß, sie hatten seit vier Tagen an jedem Abend nur eine Scheibe Brot gegessen, altes, hartes Brot, das sie sich in heißem Schneewasser aufweichten. Es quoll dadurch um das Doppelte auf, sah voluminös aus, und da die Augen mitaßen, stellte sich für eine Stunde das Gefühl der Sättigung ein. Aber dann war der Selbstbetrug vorüber, und die Körper fingen wieder an, sich selbst aufzuzehren.
Wie viele Tote es in den vergangenen Wochen durch das ›Herz der 6. Armee‹ gegeben hatte, wurde nicht mehr gezählt und berichtet. Man kannte den Grund, wenn die Männer in ihren Löchern einfach umkippten und starben, ja, man beneidete sie jetzt sogar um diesen schönen Tod, der ohne
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