Das Herz der 6. Armee
Unterschriften, Brotreste, Rüben, Kohlköpfe und Stroh. Um seine Erdhöhle herum sah es aus wie auf einer verwahrlosten Kolchose. Es türmten sich Berge von Rüben und Kohl, Heu und Stroh, und es war gut, daß alles gefror, denn sicherlich wäre vieles verfault.
»Man muß sein Herz behalten«, sagte Abranow, als man ihn still belächelte. Vor allem die abgelösten Rotarmisten von der Stadtfront schüttelten den Kopf. Sie lebten seit Tagen von trockenem Brot und einem Hirsebrei, der muffig stank und nach Schimmel schmeckte. Hier aber türmten sich Kohl und Rüben, die man gut zu einer menschlichen Speise verarbeiten konnte, besser als den muffigen Kascha. »Auf das Herz kommt es an, Genossen. Wie können wir ein Vaterland befreien, wenn wir kein Herz mehr haben, he? Krieg ist Krieg, aber ein Elefant ist ein Elefant. Stellt euch vor, wie das sein wird: Eine neue Stadt, ein neuer Zoo … und darin als Veteran des vaterländischen Krieges unser Elefant. Fast kann man sagen, es sei ein Symbol …«
Man ließ ihn reden und klaute ihm in der Nacht die Rüben, bis Abranow den Genossen Grodnidsche anflehte, eine Milizwache abzustellen. »Man bestiehlt den Elefanten«, jammerte er. »O Brüderchen … sie haben alle keine Seele mehr …«
Aber man sah den Elefanten nicht wieder. Irgendwo in der riesigen Trümmerwüste von Stalingrad mußte er umgekommen sein. Sicherlich hatten die Deutschen ihn erschossen. Doch Abranow sammelte weiter und löste sein ›Komitee zur Rettung des Elefanten‹ nicht auf.
Wenige Stunden vor der Zurückverlegung des Verbandplatzes zum Feldlazarett Gumrak wurden auch bei Dr. Portner alle sperrigen Güter und alles unnütze Gepäck vernichtet und verbrannt. Zu den entbehrlichen Gepäckstücken gehörte auch eine Kiste Schnaps, die Dr. Portner gehortet hatte, um im Notfalle mit diesem Alkohol zu desinfizieren. Nun konnte sie ausgegeben werden, und der Gefreite Schmidtke, genannt Knösel, riß sich zwei große Flaschen unter den Nagel. Um sicher zu sein, nicht gestört zu werden, meldete er sich zur MG-Wache und hockte sich in dem mit dicken Betonteilen befestigten Loch hinter das zugedeckte Maschinengewehr, setzte sich auf eine Munitionskiste und öffnete die erste Flasche, indem er den Hals an einer Mauerkante abschlug.
Gemütlich leerte er die halbe Flasche und kam in das angenehme Gefühl, das Leben trotz Kälte, Eis, Trümmer und immerwährender Todesnähe schön zu finden. Er steckte sich eine selbstgedrehte Zigarette an, schob den Stahlhelm in den Nacken, lockerte den Schal um seine Ohren, denn ihm wurde ein wenig heiß, von innen heraus, und nahm noch einen Schluck aus der Flasche, vorsichtig, damit er sich nicht an dem abgeschlagenen, gezackten Flaschenhals die Lippen aufschnitt.
Ein dumpfes Poltern schreckte ihn auf. Steine rollten, es klang wie ein lautes Schnaufen, irgendwo fiel eine kleine Ruinenwand um. Knösel setzte seine Flasche zur Seite in den Schnee und riß die Zeltplane von dem MG. Er zog den Gurt durch, spannte das Schloß und setzte sich hinter den Kolben.
»Ist das ein Mist«, sagte er zu sich. »Hoffentlich ist's kein Panzer.« Ungefähr zwanzig Meter vor ihm fiel wieder ein Trümmerstück um. Knösel legte den Zeigefinger an den Abzug des MGs, visierte die Hausruine an, in der es rumorte, und wartete. Dann sah er etwas, von dem er sich kein Bild machen konnte … aus den Steinen schlängelte sich etwas Graues, Schlangenartiges, bewegte sich schwankend hin und her, blieb in der Luft stehen und sah zu ihm herüber.
»Das ist was Neues«, sagte Knösel verblüfft. »Die Iwans haben bewegliche Fernrohre.« Er zielte auf die graue Schlange und jagte einen kurzen Feuerstoß aus dem MG. Ob er getroffen hatte, wußte er nicht. Aus den Trümmern antwortete ein Schnaufen und dann ein Schrei, der Knösel eiskalt in die Knochen fuhr. Es war ein trompetenhaftes Kreischen, weder menschlich noch maschinell. Es war etwas ganz Neues, und Knösel umklammerte den Kolben seines MGs, tastete zur Seite, wo die Handgranaten lagen und drei geballte Ladungen … die letzte Waffe gegen die Panzer.
Und dann geschah es, daß Knösel sich über die Augen wischte, sich entgeistert hinsetzte, mit beiden Händen das MG festhielt und starrte … starrte …
Vor ihm erhob sich aus den Trümmern ein grauer Koloß. Ein Berg aus Fleisch mit Säulenbeinen, mit wackelnden, großen Ohren und einem hocherhobenen Rüssel. Aus kleinen roten Augen starrte das Gebilde zu Knösel hinüber, schüttelte fast
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