Das Herz der Dunkelheit: Psychothriller (German Edition)
würde sie auch danach suchen, aber nicht heute. Denn wenn sie so etwas finden sollte, dann würde sie das erst recht traurig stimmen. Daher las sie die Kurzgeschichte zu Ende, und dann, obwohl sie das Gefühl hatte, in seiner Privatsphäre zu schnüffeln, machte sie weiter und stöberte in seinen E-Mails.
Das übliche Zeug kam noch immer herein: Shopping-Webseiten, Junk-Mails, eine E-Mail von einer Rebecca, die gesprächig klang und die Neuigkeit ganz offensichtlich noch nicht erfahren hatte, sodass Gina ihr eine freundliche Nachricht schickte und ihr sagte, Richard sei verstorben und die Beerdigung würde morgen stattfinden, und falls Rebecca in der Nähe von Fort Myers leben sollte, sei sie herzlich eingeladen.
Als das erledigt war, überprüfte sie seinen Terminkalender auf Verabredungen, die es abzusagen galt, aber sie stellte fest, dass Richard diese Anwendung offenbar nicht benutzt hatte. Daher ging sie weiter zu den Lesezeichen ihres Bruders: seine Bank, bereits erledigt; eine Arztpraxis, von der sie nie gehört hatte – wozu sie auch keinen Grund hatte; ein paar Buch-Webseiten und eine ganze Reihe seltsam klingender Seiten, die Richard, so ihre Vermutung, wahrscheinlich für Recherchezwecke benutzt hatte, die Art, auf die manche Romanschriftsteller vermutlich oft zugriffen.
Gina ging zurück zu Word und suchte nach Briefen oder Nachrichten, die ihr Bruder ihr oder ihren Eltern vielleicht hinterlassen hatte, fand keine und war noch trauriger, wenn auch nicht überrascht. Warum sollte ein Mann von achtundzwanzig Jahren Todesahnungen haben?
Nichts davon gab ihr das Gefühl, ihm jetzt noch nützlich zu sein.
Eine lausige E-Mail an diese »Rebecca«, die vielleicht nicht einmal eine echte Freundin gewesen war.
Gina fuhr den Computer herunter und stellte ihn wieder in den Schrank. Sie wusste, dass der Anblick ihre Mutter beunruhigen würde.
Wie alles, seit es passiert war.
Nicht zuletzt der Besuch dieses Dreckskerls Becket am Sonntag.
117
27. Mai
Der Tag der Beerdigung verstrich langsam.
Ein Heer von Reportern versuchte am frühen Donnerstagmorgen an Névé heranzukommen und umzingelte Mikes Wagen, als er mit Robbie wegfuhr. Im Großen und Ganzen wurden sie aber von der Alarmanlage und dank der Hilfe der Key Biscayne Police in Schach gehalten.
Daniel traf Sam in der Küche an. Er hatte mit David über die Ergebnisse seiner Blutuntersuchung gesprochen, die alle in Ordnung gewesen waren. Genau wie sein Hals und sein Kopf, denen es wieder gut ging.
Was man von seinem Gewissen nicht behaupten konnte.
»Wir sind uns nicht sicher, wie ihr beide den heutigen Tag verbringen wollt«, sagte Daniel.
»Ich wünschte, ich wüsste es«, erwiderte Sam.
»Claudia hat vor einer Weile versucht, mit Grace zu reden, aber ...«
»Es ist ein schwerer Tag für sie.«
Und noch viele weitere würden folgen.
»Das wissen wir beide.«
»Wenigstens arbeite ich nicht«, bemerkte Sam trocken.
Coopers Anklageverlesung würde ebenfalls heute stattfinden. Martinez ging an Sams Stelle hin.
»Es hat bestimmt alles sein Gutes.« Daniel schwieg kurz. »Wir dachten, vielleicht sollten wir euch ein paar Stunden in Ruhe lassen. Wir nehmen nicht an, dass ihr aus dem Haus gehen wollt, mit den ganzen Paparazzi dort draußen.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob wir als Prominente gelten, aber du hast nicht unrecht.« Sam zwang sich zu einem Lächeln. »Wenigstens könnt ihr beide, du und Claudia, für eine Weile entkommen.«
»Wir könnten was zum Abendessen mitbringen«, schlug Daniel vor.
»Ich habe das Gefühl, wir werden euch nie genug danken können, Dan.«
»Es ist nur ein Essen.« Daniel lächelte.
»Schön wär’s«, sagte Sam.
»Sie sind entkommen«, stellte Grace fest, nachdem ihre Schwester und ihr Schwager weggefahren waren.
»Das habe ich doch gesagt.«
»Du solltest auch fahren.«
»Hör auf damit!«, bat er sie sanft.
»Okay.«
»Wir werden es ganz ruhig angehen. Bei Joshua sein, zusammen sein.«
»Solange wir es noch können«, murmelte Grace. »Weißt du eigentlich nicht, wie sehr mir das wehtut?«
»Doch«, sagte sie. »Entschuldige.«
Ihre Schuldgefühle quollen noch immer über.
Aber wenn nicht heute, wann dann?
118
30. Mai
Am Sonntagmorgen kam ein Anruf aus Chicago.
Frank Lucca, der Vater der beiden Schwestern, hatte bereits zwei Schlaganfälle überstanden, während seine zweite Frau Roxanne noch am Leben war und ihn quälte. Seit Juni vor zwei Jahren lebte er in einem Pflegeheim. Jetzt hatte er
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