Das Herz der Dunkelheit: Psychothriller (German Edition)
einen weiteren Schlaganfall erlitten, diesmal, wie man Claudia sagte, einen »schweren«.
Man rechnete nicht damit, dass er ihn überlebte.
»Werden sie mich hinfahren lassen?«, fragte Grace Sam.
Es gab keine Spur von Liebe mehr zwischen ihr und dem Mann, der in ihrer Kindheit Claudia bis zu dem Tag missbraucht hatte, an dem Grace ihre Flucht nach Florida organisiert hatte. Auch wenn er für seine Sünden bezahlt hatte, dank Jeromes Mutter.
»Ich muss für Claudia dort sein«, sagte sie jetzt.
Claudia war immer die Sanftere gewesen, wenn es um ihre Eltern ging, hatte Frank nach seinen Schlaganfällen weiterhin besucht – auch wenn er es, falls er sich über ihre Besuche gefreut hatte, nicht gezeigt hatte, denn was von seinem Verstand noch übrig war, taumelte irgendwo zwischen seiner eigenen Kindheit und den frühen Jahren in seinem italienischen Lebensmittelladen in Melrose Park.
»Ich werde Jerry anrufen«, beschloss Sam. »Obwohl ich vermute, dass wir bis morgen warten müssen werden, bis wir irgendeine Antwort bekommen.«
Was sich erübrigte. Denn weniger als eine Stunde später kam ein zweiter Anruf aus Chicago, um ihnen mitzuteilen, dass Frank verstorben war.
Die Schwestern blieben noch lange auf, tranken Chianti und redeten über die alten Zeiten.
»Es war nicht alles schlecht«, sagte Claudia.
Grace warf ihr einen kurzen Blick zu. »Das Meiste schon.«
Sie sprachen auch über jüngere Zeiten, über ihr großes Glück, ihre Kinder und ihre Ehemänner. Claudia redete davon, über schlechte Zeiten hinwegzukommen, darüber, wie gut es ihr und Dan jetzt ging, und wie dankbar sie ihm war, dass er sie hierher, und vor allem zu Grace, zurückgebracht hatte.
»Ich glaube, Dan ist einer der freundlichsten Männer, die mir je begegnet sind«, erwiderte Grace.
Claudia lächelte. »Der Beste. Zusammen mit Sam.«
»Ich weiß.«
Sie schwiegen eine Weile.
»Ich wünschte, ich könnte dir mehr helfen«, sagte Claudia dann.
»Niemand hätte mir mehr helfen können als du! Nicht nur, indem du dieses wunderschöne, sichere Haus mit uns teilst.« Grace schwieg einen Augenblick. »Du hast mich nicht verurteilt. Keiner von euch hat mich verurteilt.«
»Weil wir alle an dich glauben.« Claudia seufzte und schüttelte den Kopf.
»Was denn?«, fragte ihre Schwester.
»Ich habe nur eben wieder an Dad gedacht.«
»Wenn wir noch viel länger an Frank denken«, erwiderte Grace trocken, »dann brauche ich mehr Wein.«
Irgendwann in der Nacht kamen Sam und Daniel, die ihre Frauen vermissten, nach unten und fanden die Schwestern schlafend auf dem Sofa.
»Decken?«, sagte Sam leise.
Daniel nickte und verschwand, kam mit einer großen Patchworkdecke wieder, und sie deckten ihre Frauen behutsam zu und gingen dann in die Küche.
»Wie wär’s mit einem Drink?«, schlug Daniel vor. »Ich könnte jetzt einen Schluck vertragen.«
»Klingt gut.«
»Single Malt für dich?«
»Noch besser! Und morgen keine Arbeit.«
Daniel schenkte ihnen beiden ein paar Finger breit ein, und sie setzten sich an den Tisch.
»Kann ich dir etwas sagen?«
»Natürlich.«
»Aber sag mir, wenn ich den Mund halten soll.«
»Klar.«
»Okay.« Daniel nahm einen Schluck. »Mir scheint, es gibt Dinge, die wir einfach nicht unter Kontrolle haben, egal, wie sehr wir es wollen. Dinge, die wir selbst vermasseln oder die offenbar nur immer schlimmer werden, je mehr wir dagegen ankämpfen. Und manchmal, denke ich, muss man sie vielleicht einfach geschehen lassen und sich später überlegen, was man tun soll.«
»Ich kann meine Frau nicht einfach ins Gefängnis gehen lassen«, sagte Sam leise.
»Nein«, nickte Daniel. »Das ist einfach undenkbar.«
»Das Problem ist, es wird allmählich alles zu undenkbar.«
Und diesmal hatte sein Schwager nichts zu erwidern.
119
31. Mai – 2. Juni
Die Erlaubnis war erteilt worden, und Grace und Claudia trafen ihre Vorkehrungen.
Frank würde neben ihrer Mutter Ellen beigesetzt werden.
Roxanne ruhte an einem anderen Ort.
Sie hatten eine Anzeige ins Melrose Park Journal gesetzt, um die Einzelheiten der Beerdigung bekannt zu geben, falls es irgendwo noch jemanden gab, der vielleicht teilnehmen wollte.
Cathy und Saul würden mitkommen, ebenso Mike und Robbie, Joshua würde jedoch bei David und Mildred bleiben.
Die Trennung von ihm war Grace’ größter Schmerz, aber sie war entschlossen, ihn nichts auszusetzen, was irgendwie mit Frank Lucca zusammenhing.
Am Dienstag – dem Tag, der eigentlich Sams erster
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