Das Herz der Dunkelheit: Psychothriller (German Edition)
Sam.
»Du bist auch nur ein Mensch. Du hast reagiert.«
»Ich bin dazu ausgebildet, es nicht zu tun.«
Dann sah er in ihren Augen, nur für einen Moment, den entsetzlichen Schmerz, an dem sie noch immer litt, die Schuldgefühle und die Angst und die Scham. Und doch versuchte sie verzweifelt, es vor ihm zu verbergen. In diesem Augenblick schob Grace das alles von sich, um ihm zur Seite zu stehen, denn das war schon immer ihre Art gewesen, wenn es um ihn ging.
Daher war das Gespräch mit ihr am Strand nicht annähernd so hart, wie es hätte sein sollen.
Nicht annähernd so hart, wie gestern Abend sich selbst im Spiegel zu sehen.
Er würde suspendiert werden, keine Frage. Vermutlich zwei bis fünf Tage ohne Gehalt. Noch ein Makel in seiner Karriere.
Und ohne jede Möglichkeit, einen Teil dieser Zeit zu nutzen, um einen Beweis dafür zu erbringen, dass Grace in Notwehr gehandelt hatte. Ihm fiel niemand mehr ein, mit dem er noch reden könnte.
Bernice van Heusen, die letzte registrierte Eigentümerin des VW, war tot.
Familie Bianchi wünschte sich vermutlich nichts mehr, als dass der Richter Grace lebenslänglich hinter Gitter schickte.
Bianchi selbst – Coopers ›Toy‹ – war noch nicht unter der Erde, aber längst nicht mehr da.
Es gab niemanden, an den er sich noch wenden konnte.
Gott steh ihnen allen bei!
115
26. Mai
Der Captain war grimmig, aber nicht unfreundlich.
»Warum zum Teufel haben Sie das Band abgeschaltet?«
Womit er offenbar sagen wollte, dass Sams momentaner Kontrollverlust vielleicht zumindest verzeihlich, wenn auch nicht akzeptabel hätte sein können, durch das Abschalten des Bandes aber als vorsätzlicher Übergriff ausgelegt werden konnte.
Denn genau das ließ Cooper über seinen Anwalt Albert Singer behaupten.
Auch wenn es dafür keine Zeugen gab. Denn um nichts in der Welt würde Alejandro Martinez für Cooper gegen Sam Becket aussagen.
Cooper behauptete, der Riss in seiner Gefängniskluft und die Prellungen an seinem Hals seien auf Sam zurückzuführen.
»Ich habe seine Kleidung nicht zerrissen«, sagte Sam jetzt, »und ich würde mich wundern, wenn ich ihm Prellungen zugefügt haben sollte.«
»Ich würde Sie lieber sagen hören, Sie wüssten, dass Sie ihm keine zugefügt haben«, erwiderte Kennedy.
Sam brauchte keine zwei Sekunden.
»Ich weiß, dass ich ihm keine Prellungen zugefügt habe, Sir.«
Der Captain nickte.
»Sie sind suspendiert, Detective Becket, bis zu einer disziplinarischen Überprüfung.« Er schwieg einen Moment. »Bedauerlicherweise ist das für Sie nichts Neues.«
»Nein, Sir.«
Sam war schon einmal suspendiert worden, vor ein paar Jahren, als er außerhalb seiner Zuständigkeit gehandelt hatte, damals im vollen Bewusstsein, dass er degradiert oder sogar aus dem Department versetzt werden könnte.
»Ich würde mich gern entschuldigen, Captain.«
»Das glaube ich Ihnen gern.«
»Zu spät, nehme ich an«, sagte Sam.
»Detective Martinez sagte mir, Sie seien provoziert worden, und das Band stützt diese Behauptung.«
»Das ist keine Entschuldigung.«.
Kennedy sah ihn lange an. »Nein, Sam, das ist es nicht.«
116
Um zehn nach elf an demselben Morgen – einen Tag vor Richard Bianchis Beerdigung – saß Gina Bianchi, die bei ihren Eltern in Fort Myers übernachtet hatte, in dem alten Zimmer ihres Bruders auf dem Bett, öffnete den Laptop, der aus seiner Wohnung in Miami zurückgebracht worden war, und schaltete ihn ein.
Sie tat es hauptsächlich, weil sie dachte, es könne praktische Dinge zu klären geben, um die sich noch niemand gekümmert hatte. Denn wenn sie selbst gestorben wäre, dann hätten ihre Hinterbliebenen in ihrem Computer fast alles gefunden, was noch zu regeln wäre.
Außerdem verspürte Gina ein dringendes Bedürfnis, sich Richard nahe zu fühlen.
Sie rief Word auf, ging seinen Creative-Writing-Ordner durch, stieß auf eine seiner Kurzgeschichten – mit dem Titel »Bodenkontrolle« – und begann zu lesen.
Und bald darauf zu schluchzen. Nicht nur, weil er nicht mehr da war, nicht nur, weil ihr diese Lektüre wieder einmal zeigte, dass ihr jüngerer Bruder kaum Talent besessen hatte. Sondern vor allem, weil sie wusste, dass Richard es ebenfalls gewusst hatte, weshalb er nicht so glücklich gewesen war, wie er andernfalls vielleicht gewesen wäre.
Er hatte einen Roman schreiben wollen, und Gina mochte wetten, wenn sie ein bisschen genauer suchte, dann würde sie auf Versuche eines solchen Romans stoßen. Irgendwann
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