Das Herz der Feuerinsel: Roman (German Edition)
einfach nur auf der Bettkante und sah durch das geöffnete Fenster in den Garten hinaus, dessen Blütenkaskaden und Laubwolken erst in dem prächtigen Lichtspiel des kurzen Sonnenuntergangs erglühten, dann verblauten und in der vorwärtsstürmenden Dämmerung ihre Farben und Konturen verloren. Die Geräusche im Haus plätscherten gedämpft an ihr vorbei, das Geschnatter von Endah, Ratu und Ningsih, der Bass des Majors, die leise Stimme seiner Frau und irgendwann einmal Idas Weinen. Bis die Nacht hereinbrach, die lebendige, unruhige Nacht Sumatras.
Töricht war es gewesen, zu glauben, die Trauer um seinen Sohn hätte Vincent de Jong gezähmt. Ein Tiger ließ sich nicht zähmen, von nichts und niemandem, und wie ein unachtsames Kleinkind, das einen Tiger für eine große Katze hält, hatte sie neugierig die Finger danach ausgestreckt und war gebissen worden. Ein Fehler war es gewesen, noch zu bleiben, obwohl sie eigentlich schon längst hätte gehen wollen; sie hätte auf ihre innere Stimme hören müssen, die sie schon vor Wochen dazu gedrängt hatte. Hier war kein Platz mehr für sie.
Müde und immer noch unter leichtem Zittern stand sie auf, um die Lampe anzuzünden, ihre Sachen aus dem Schrank zu holen, die Koffer zu packen und ihre Kündigung zu schreiben. Morgen früh würde sie das Haus verlassen und keinen Blick zurückwerfen.
Nach ihr die Sintflut.
Ich hab dich lieb, noni Bina. Du darfst nie wieder weggehen.
»Jeroen?«, murmelte Jacobina im Halbschlaf; unwillkürlich tastete sie mit beiden Händen um sich herum nach dem Jungen. Es war, als könnte sie ihn spüren, neben ihr im Bett, wie er sich zusammenrollte und sich an sie schmiegte. Als wäre er ganz in der Nähe, so fühlte es sich an. Bis es sie durchzuckte, dass er nicht mehr am Leben war, und ihr Herz krampfte sich zusammen.
Sie konnte ihn hören, wie er hustete und würgte, und in der Hitze der Tropennacht kroch es kalt durch Jacobinas Adern. Gewaltsam riss sie die Augen auf und blinzelte in das flackernde Lampenlicht. Sie hörte es immer noch, einen Menschen, der sich qualvoll erbrach. Bitte, lieber Gott, nicht Ida. Nicht sie auch noch.
Jacobina sprang aus dem Bett, griff sich die Lampe und eilte aus dem Zimmer. Einige Augenblicke stand sie mit rasendem Herzschlag im Korridor und lauschte. Im Schlafzimmer der de Jongs war alles still, abgesehen vom leisen Schnarchen des Majors.
Ein Wimmern hob an, ein peinvolles Luftholen, ein erneutes Würgen; es kam von gegenüber, aus dem Zimmer, in dem die Kinder geschlafen hatten. Jacobina riss die Tür auf und leuchtete mit der Lampe in den Raum.
Zusammengekrümmt lag Melati auf ihrer Bodenmatte, einen finsteren, zerlaufenen Schatten neben sich. Krämpfe durchschüttelten ihren Leib, ließen Füße und Hände zucken, und mit einem heftigen Ruck erbrach sie einen weiteren Schwall klumpigen Breis.
Schwarz wie Pech.
39
Stocksteif vor Anspannung saß Jacobina auf der Bettkante. Vor dem Fenster glänzte die Nachmittagssonne auf dem blühenden Garten, und sie vermeinte das Funkeln des Lichts auf dem Wasser der Bucht zu sehen. Weniger als vierundzwanzig Stunden war es her, dass der Major sie am Strand geküsst hatte, und weniger als zwölf Stunden, dass er mitten in der Nacht noch nach Teluk Betung geritten war, um Doktor Dekker zu holen.
Jacobina stiegen Tränen in die Augen, die die Aussicht auf den Garten verschwimmen ließen und auch die Konturen ihrer aufgestapelten Koffer neben dem Tisch, auf dem das zusammengefaltete Blatt mit ihrer Kündigung lag, noch ebenso unangetastet wie gestern, nachdem sie sie geschrieben hatte. Wie in einem nicht enden wollenden Alptraum kam sie sich vor, aus dem es kein Entkommen gab.
Das Rauschen des Meeres verwob sich mit den Stimmen im Salon. Nachdem der Arzt angeordnet hatte, Melatis Leichnam nicht zu waschen und auch sonst alles unberührt zu lassen, war er mit grüblerischer Miene in seinem kleinen Pferdewagen davongerumpelt und später mit Herrn Beyerinck und einem Soldaten in schwarzblauer Uniform zurückgekehrt. Und mit aschfahlem, versteinertem Gesicht hatte der Major Jacobina befohlen, in ihrem Zimmer zu warten, bis sie gerufen wurde.
Stunden schien es her zu sein; Stunden, in denen das kleine Haus erfüllt war von Schritten, Rumoren und Stimmen, mal eindringlich, mal besänftigend, und immer wieder hatte sie Ida laut weinen gehört, kläglich, manchmal geradezu verstört. Laute, die Jacobina bis ins Mark gedrungen waren, aber sie hatte es nicht gewagt, das
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