Das Herz der Feuerinsel: Roman (German Edition)
klein und schmal für ihr Alter«, meinte er. »Aber das ist nicht ungewöhnlich, das holt sie sicher schnell wieder auf. Ansonsten kann ich nichts feststellen, außer dass die kleine Miss hier«, zärtlich rieb er mit dem Zeigefinger über Idas nackte Wade, »kerngesund ist.« Seine fein gezeichneten schwarzen Brauen zogen sich zusammen. »Ich will Ihnen aber nicht verschweigen, dass ererbte Syphilis tückisch ist. Manchmal zeigt sie sich erst nach Jahren, manchmal nie, und trotzdem erreichen die Kinder nur das junge Erwachsenenalter. Wobei es dann immer schwer ist, die genaue Ursache dafür auszumachen.« Jacobina nickte beklommen und streichelte Ida durch das Haar. »Vielleicht«, fuhr er fort, »hatte sie auch Glück und ist gerade in einer wenig ansteckenden Phase der Erkrankung zur Welt gekommen. Es schadet sicher nichts, achtsam zu bleiben, aber ich sehe momentan keinen Grund, warum die Kleine nicht gesund bleiben sollte.«
Jacobina nickte wieder. »Sie spricht nicht mehr, seit … seit sie ihre Eltern bei einem schweren Unglück verloren hat, in dem sie selbst beinahe umgekommen ist.«
Seine Augen hefteten sich auf Jacobina, prüfend, aber auch neugierig. »Wie lange ist das her?«
Jacobina schlug die Augen nieder. »Etwas mehr als zwei Monate.« Sie spürte, dass er nicht lange nachdenken musste, um dem Unglück einen Namen zu geben, den der Insel von Krakatau; es stand fühlbar zwischen ihnen im Raum.
»Sobald Ida sich wieder in einer Umgebung eingewöhnt hat und sich sicher fühlt, wird auch ihre Sprache zurückkommen. Sie werden sich davon erholen, alle beide.«
Angenehm warm legte sich seine Hand auf ihre Schulter; eine Wärme, die durch den Stoff des Kleides bis auf ihre Haut drang, sich von dort ausbreitete und in ihr das Bedürfnis weckte, sich in seine Arme fallen zu lassen. Er schien der geborene Arzt zu sein, dem die Menschen unwillkürlich Vertrauen entgegenbrachten.
Jacobina wich seinem Blick aus und versuchte, Ida das Stethoskop zu entlocken, die es aber nicht hergeben wollte. Edward Leung lachte, während er aufstand, um sich die Hände zu waschen.
»Lassen Sie es ihr ruhig. Geben Sie es mir einfach zurück, wenn sie das Interesse daran verloren hat.«
»Was bekommen Sie von mir für die Untersuchung?«, fragte Jacobina, während sie Ida ihr Kleidchen überstreifte.
»Nichts.« Er sammelte die anderen Instrumente wieder ein, verstaute sie in seiner braunen Ledertasche und ließ die Schlösser zuschnappen. Unwillkürlich sah Jacobina zu ihm auf, als sie seine Augen auf sich spürte, und ihr Herz klopfte schneller, als er lächelte; ein Lächeln, das seine dunklen Augen noch eine Spur schräger stellte, die scharfen Wangenknochen betonte und seinen Mund weich wirken ließ.
»Es sei denn, Sie möchten mir dafür beim Dinner Gesellschaft leisten.«
54
Das Kaminfeuer knisterte und warf seinen zuckenden Schein auf das massive, breite Bett. Floortje lag auf der Seite, den Kopf in die Hand gestützt, und betrachtete John Holtum. Ihr zuliebe ließ er das Feuer auch nachts brennen, denn sie fror, gerade aus dem heißen Indien in den Novembernebel über England gekommen, während er nachts nur eine Pyjamahose trug.
Er lag auf dem Rücken, die Augen geschlossen, und sein hartes Gesicht wirkte entspannt. Auch der flache Mund sah gelöst aus. Dieser Mund, von dem sie inzwischen wusste, wie es war, ihn zu küssen; schön fühlte es sich an, auf behagliche Weise aufregend, sodass es ihr in der Magengegend kitzelte. Ihre Blicke wanderten über seine breiten Schultern und kräftigen Schlüsselbeine, über die starken Muskeln seiner Oberarme, in die sie sich gerne zum Einschlafen kuschelte oder morgens, bevor es Zeit war aufzustehen, und manchmal, wenn sie nachts aus einem Alptraum hochschreckte. Er forderte nichts ein, er versuchte auch nicht, sie zu überreden oder zu locken, aber Floortje erriet, wie schwer es ihm fiel, Nacht um Nacht nur neben ihr zu liegen, sie nur zu küssen und ihr Gesicht zu streicheln, mit jeder Woche, die sie zusammen waren, mehr.
Floortje mochte das Leben im Zirkus; ihr gefiel das Reisen und die bunten, glitzernden Kostüme, die gleichermaßen bodenständige wie traumtänzerische Art zu leben und dass man sich unter den Artisten wie in einer großen, lärmenden, lustigen Familie gut aufgehoben fühlte. Sie hatte Spaß daran, hübsch angezogen die Programmhefte zu verkaufen und dabei mit den männlichen und weiblichen Gästen zu plaudern und zu schäkern, und sie hatte
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