Das Herz der Feuerinsel: Roman (German Edition)
Schulbücher außer der Fibel, die sie selbst mitgebracht hatte. Ihr Unterrichtszimmer waren stattdessen der Garten und das Haus, in dem es keine verbotenen Zimmer gab, in dem alles berührt und ausprobiert werden durfte, um Ida und Jeroen die holländischen Namen der Gegenstände beizubringen. Und ein Garten, in dem sie mit den Kindern spielte und dabei Holländisch sprach, ohne Lehrplan, ohne strenge Oberaufsicht, ohne Regeln außer jenen, die sie selbst bestimmte. Die Freiheit vor allem, vieles von dem, was sie in Amsterdam über Jahre hinweg gelernt hatte, war es anerzogen, abgeschaut oder aus bitterer Erfahrung geboren, über Bord zu werfen, weil es hier keine Gültigkeit besaß. Eine Freiheit von steifer Kleidung und steifem Benehmen, von der sie ihren Eltern nicht schreiben konnte, weil sie wusste, sie hätte ihnen in höchstem Maße missfallen; womöglich hätten sie sogar Henrik geschickt, um seine Schwester wieder nach Hause zu holen, ehe Ostindien sie vollends verdarb.
Und sie schrieb auch nichts über die Farben, die in der Sonne und der feuchtheißen Luft, in einem Licht, das alles leuchten ließ, so intensiv waren, dass sie förmlich aus dem saftigen Grün hervorknallten. Nicht darüber, dass der Leib zwar träge wurde in der tropischen Hitze, der Geist erlahmte, der Seele aber Flügel wuchsen. Auch über die Düfte, so fremd, so anziehend in ihrer schwülen Süße, der aromatischen Frische und schweren Würze, schrieb sie nichts.
Allein deshalb, weil Jacobina die Worte dafür fehlten.
»Los geht’s! Und nicht schummeln!«
Jeroen, in weiten, dreiviertellangen Hosen und lockerem Hemd, drehte sich um und legte die Hände vor die Augen. »Eins«, begann er langsam auf Holländisch abzuzählen. »Zwei … drei …«
Jacobina nahm Ida bei der Hand und lief in leicht gebückter Haltung mit ihr über den Rasen, so schnell es die kurzen Beinchen des kleinen Mädchens erlaubten. Ida, ein Lachen auf dem Gesicht, gab sich alle Mühe; in ihrem Wickelrock und dem weißen Blüschen, beides eine Miniaturausgabe der Kleidung ihrer Mutter, rannte sie auf bloßen Füßen vorwärts, dass ihr blondes Haar hinter ihr herflatterte.
»… sieben … acht …« Jeroen zögerte. »Acht«, wiederholte er grüblerisch und zögerte wieder; dann rief er laut: »Was kommt nach acht?!« Es war erstaunlich, welche Fortschritte der Junge seit Jacobinas Ankunft gemacht hatte; als wäre die Muttersprache seiner Eltern bei ihm lediglich verschüttet gewesen und durch Jacobina nur wieder freigeschaufelt worden.
»Neun«, rief Jacobina im Laufen zurück.
»Acht … neun …«
»Komm, schnell«, flüsterte sie Ida zu. Sie hatten die Veranda erreicht, und Jacobina zog das kleine Mädchen hinter einen Hortensienbusch mit himmelblauen Blütenbällen.
»… elf … zzz-zwöllf …«
Jacobina ließ Idas Hand los, schürzte ihren Rock und kniete sich auf die Erde. Nachdem ihr einige Male schwindelig geworden war, weil sich ihre langen Röcke und die hochgeschlossenen Blusen trotz der leichten Stoffe als zu warm für das tropische Klima herausgestellt hatten, hatte Jacobina schließlich keine andere Wahl gehabt und trug seither genau wie alle anderen Frauen auch den sarong , den einheimischen Wickelrock, und die kebaya , die dazugehörige weiße Bluse, manchmal auf Holländisch zu baadje verniedlicht. Mittlerweile konnte sie sich auch keine andere Kleidung mehr vorstellen, der Sarong war luftig und die Kebaya aus solch feinem Stoff, dass sie kaum zu spüren war. Und da sie in ihren festen Schuhen förmlich geschwommen war, ging sie in Haus und Garten inzwischen ebenfalls barfuß umher.
»… vierzehn … fünfzehn …«
Ida kicherte, und Jacobina legte den Finger an die Lippen. »Schhh«, machte sie und fügte im Flüsterton hinzu: »Wir müssen leise sein!«
Das kleine Mädchen ahmte die Geste nach und nickte. »Leise«, piepste es hinter seinem Finger hervor und kicherte wieder.
Auch Ida verstand inzwischen sehr viel mehr Holländisch als noch vor drei Monaten, und Jacobina kam meistens ohne Melatis Hilfe aus. Wenn es dem kleinen Mädchen auch gleich zu sein schien, ob es nun malaiische Worte oder holländische benutzte; mal verwendete Ida das eine, mal das andere und oft eine Mischung aus beiden.
»… neunzehn … zwanzig! – Kommeee!«
Jacobina duckte sich tiefer hinter den Hortensienstrauch, ließ sich bis auf die Ellenbogen nieder, und auch Ida ging in die Knie, die Händchen auf die Oberschenkel gestützt. Gespannt
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