Das Herz der Hoelle
die Temperatur war weit unter den Gefrierpunkt abgesunken.
Das Schlagen von Autotüren.
Ich wagte einen Blick. Niemand. Durch die Wälder fliehen? Im Dorf Zuflucht suchen? Wie groß wären meine Chancen, jemanden zu wecken, bevor sie mich aufspürten? Angst überfiel mich. Ich begann zu zittern. Weiße Kristalle bildeten sich an Wimpern und Haaren. Ich erfror an Ort und Stelle. Ich tastete meine Taschen ab, fand darin ein Paar Latexhandschuhe und zog sie mir ungeschickt über.
Erinnerungen tauchten in meinem Kopf auf, Erinnerungen, die sich auf den Prozess des Erfrierens bezogen. Missionare des Hohen Nordens, der Oblaten, die ich im Priesterseminar in Rom kennengelernt hatte, hatten mir häufig davon erzählt. Zunächst zitterte man – das war ein gutes Zeichen, denn der Körper reagierte, versuchte sich zu wärmen. Dann konnte der Körper nicht länger gegen die Kälte kämpfen. Jetzt sank die Körpertemperatur alle drei Minuten um ein Grad. Das Zittern hörte auf. Der Herzschlag verlangsamte sich, und die Haut und die äußersten Enden der Gliedmaßen wurden nicht mehr mit Blut versorgt. Der weiße Tod war da. Wenn die Körpertemperatur um elf Grad gesunken war, hörte das Herz auf zu schlagen, das Koma trat allerdings schon vorher ein.
Wie viel Zeit blieb mir noch?
Ich blickte mich wieder um. Diesmal sah ich sie. Sie stapften vorsichtig durch den Schnee, Gewehre im Anschlag. Kristalline Wolken entwichen ihrem Mund. Einer von ihnen stieß sich an der Ecke eines Bulldozers. Er schien nicht zu reagieren, wie betäubt von der Kälte. Auch ihnen setzte die mörderische Kälte zu. Wir saßen alle drei in der gleichen Falle. Gefangene der Nacht und bald versteinert wie Statuen.
Ich musste mich bewegen. Irgendetwas tun, um mich zu wärmen. Ich schaukelte mit dem Oberkörper vor und zurück. Dann ließ ich mich leise mit den Ellbogen in den Schnee fallen. Zu den Kiefern robben, um mich wenigstens vor dem Wind zu schützen. Schritte, ganz nah. Ich drehte mich um, mit dem Rücken zum Boden, und versuchte nach meiner Automatik zu greifen. Ich musste den Griff mit beiden Händen umklammern, weil meine Finger nicht mehr reagierten.
Plötzlich das granatfarbene Schillern eines Visiers. Ich hob den Kopf: Da stand der Killer, eine Waffe in der Hand. Aus seiner Maske stieg kondensierter Atem auf, der ihn mit einem bläulichen Lichtschein umgab.
Ich schloss die Augen und tat das, was jeder Menschen in einer solchen Lage täte, ob gläubig oder nicht: Ich betete. Ich erflehte, aus ganzem Herzen, den Beistand Gottes.
Eine Stimme ertönte:
»Wer da?«
Ich drehte den Kopf. Da sah ich mit Tränen in den Augen Taschenlampen und silberne Tressen. Eine Patrouille Schweizer Grenzer! Ich sah wieder vor mich: Der Killer war verschwunden.
Ich hörte dumpfe, schnelle Schritte, die sich entfernten. Rufe auf Deutsch. Motorengeräusch. Die Verfolgung begann aufs Neue – aber diesmal mit den Jägern in der Rolle der Gejagten. Die Grenzer hatten meinen Wagen unter den Brettern nicht entdeckt.
Es gelang mir, meine Automatik in meine Tasche zu stecken und mich auf den Bauch zu drehen. Ich stützte mich mit den Ellbogen im Schnee ab und robbte mit gefühllosen Beinen zu meinem Auto. Ich spürte weder meinen Körper noch die Kälte. Endlich die Wagentür. Den Rücken im Türrahmen zog ich mich hoch wie ein Gelähmter, der keine Gewalt mehr über seine unteren Gliedmaßen hat. Nachdem ich es in den Sitz geschafft hatte, tastete ich den Raum unter dem Lenkrad nach dem Zündschlüssel ab. Mit zwei Händen drehte ich ihn und erlebte ein weiteres Wunder: das Dröhnen des Motors. Die Wucht des Aufpralls musste den Kühlergrill von dem Eis befreit haben.
Die Heizung kam wieder in Gang. Mit dem Ellbogen drehte ich die Lüftung voll auf. Über die Luftschlitze gebeugt, die beiden Fäuste ausgestreckt, wartete ich auf die Wärme, die das Blut unter meiner Haut wecken sollte. Nach und nach gewahrte ich die Stille um mich herum. Der menschenleere Wald. Und die zweifellos nur wenige Kilometer entfernte Grenze.
Als ich endlich die Finger und die Füße bewegen konnte, legte ich den Rückwärtsgang ein und befreite mich aus dem Holzhaufen. Bald würden weitere Patrouillen eintreffen. Ich wendete, schaltete in den Ersten und verließ die Baustelle.
Einige Minuten später war ich unterwegs Richtung Italien. Mein Motor funktionierte noch. Und ich war am Leben
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