Das Herz der Hoelle
diese Spezialisten den unerklärlichen Charakter der Heilung an oder nicht.«
Nach dem positiven Votum der Arzte hat der Heilige Stuhl den Fall wieder an sich gezogen, um sich mit dessen spiritueller Dimension zu befassen. Monsignore Perrier, der Bischof von Lourdes, meinte: »Für die Kirche ist die körperliche Heilung nur ein Aspekt des Wunders. Es ist das äußere Anzeichen einer tieferen Heilung auf geistlicher Ebene. Aus diesem Grund verfolgen wir die seelische Entwicklung der geheilten Person. So erkennen wir Fälle, in denen jemand seine Erfahrung zu Geld machen will oder nach seiner Heilung keinerlei Religiosität zeigt, nicht an. In den meisten Fällen machen die durch ein Wunder geheilten Personen eine makellose spirituelle Entwicklung durch, was belegt, dass sie einen höheren Bewusstseinszustand erreicht haben.«
Agostina Gedda passte in dieses Profil. Aus dem Kind wurde eine Krankenschwester, die immer nach Lourdes zurückgekehrt ist, um den Kranken und Wallfahrern zu helfen. Nach Ansicht aller ist Agostina ein sanftmütiges Wesen, das sich der Nächstenliebe verschrieben hat.
Wenn man ihr begegnet, fällt einem als Erstes ihre Schlichtheit und Bescheidenheit auf. Mit ihren vierundzwanzig Jahren strahlt sie heute ein echtes inneres Licht aus. Sie wohnt noch immer in Paterno und teilt ihr Leben mit ihrem Ehemann Salvatore, einem gelernten Elektriker. Sie haben eine Wohnung in einem der sozial schwachen Viertel Paternos gemietet.
Heute, da ihre Wunderheilung offiziell anerkannt ist, stellt sich die Frage, wie sie mit dem Gedanken zurechtkommt, von Gott auserwählt zu sein. Sie lächelt fast etwas verlegen: »Meine Heilung ist kein Zufall, aber zugleich ist dieser göttliche Eingriff unerklärlich. Ich war ein Kind wie alle anderen. Ich betete kaum, und ich hatte eine sehr naive Vorstellung von der Religion. Ich habe seither intensiv über dieses Mysterium nachgedacht. Ich glaube, dass meine Geschichte letztlich in Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift steht. Ich war ein ganz gewöhnlicher Mensch, eine Unbekannte unter Unbekannten. Und eben aus diesem Grund hat mich die Jungfrau Maria erwählt, wie ich glaube. Ein Kind wurde gerettet, das ist alles.«
Die Frau mit den zwei Gesichtern. Geradezu ein Filmtitel. Halb Engel, halb Dämon. Wie ließ sich erklären, dass die von Gott auserwählte Agostina plötzlich ihren eigenen Mann auf bestialische Weise zu Tode folterte? Wieder ein seltsames Gefühl. Einerseits passten diese beiden Tatsachen nicht zusammen – sie schlossen sich geradezu gegenseitig aus. Andererseits musste ein noch unerkannter Zusammenhang zwischen dem Wunder und dem Mord bestehen …
Gegenwärtig zeichneten sich erst vage Umrisse einer Antwort auf eine uralte Frage ab: Unital6. Weshalb interessierte sich Luc für diesen Verein, der Wallfahrten organisierte? Weil Agostina mit dieser Stiftung verreist war. Sie hatte sich dann sogar regelmäßig ehrenamtlich für den Verein engagiert. Was suchte Luc in dieser Organisation?
Ich wandte mich den Fotos im Umschlag zu. Die fünfzehn- oder sechzehnjährige Agostina, die sich vor Johannes Paul II. verbeugte. Agostina, die mit zwanzig Jahren einen Rollstuhl durch die Menge in Lourdes schiebt und die blaue Haube der Freiwilligen der Marienstadt trägt. Schließlich Agostina bei der Arbeit: ein mattes Lächeln und ein weißer Kittel. Eine Heilige. Eine Figur voller Demut, die ihre Herzlichkeit und ihr Mitgefühl in einem gleichförmigen, unauffälligen Alltag entfaltete.
13 Uhr. Noch immer keine Neuigkeiten von Michele Geppu, dem Questore. Ich war allein in diesem großen Raum, versteckt im Sediment der Vergangenheit, geschützt vor der Gegenwart – vor dem Vulkanausbruch, der über meinem Kopf knisterte …
Ich kehrte zu den Fächern zurück und stöberte den Umschlag »2000« von Agostina auf. Nichts Neues. Die Leiche Salvatores, auf einer Baustelle gefunden. Agostina in ihrer Wohnung festgenommen. Ihr uneingeschränktes Geständnis, aber kein Wort über ihr Motiv. Bei einer so eindeutigen Beweislage wäre mit einem schnellen Urteil zu rechnen gewesen. Und doch war Agostina noch immer nicht abgeurteilt worden. Der Prozess zog sich endlos hin. Ich vermutete, dass ihre Verteidiger – die berühmten Anwälte des Heiligen Stuhls – das Ihre dazu beigetragen hatten.
Es gab weitere Fotos – die Leiche, so wie sie gefunden worden war. Ich kannte die Aufnahmen von Sylvie
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