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Das Herz der Hoelle

Titel: Das Herz der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Simonis, aber diese da waren ebenfalls nicht schlecht. Bis auf die Knochen abgenagte Gliedmaßen. Das von Larven wimmelnde Becken. Der von Wunden überzogene Oberkörper. Kruzifix im Mund. Der Leichengestank schien die maskierten Spurensicherer ins Torkeln zu bringen.
       Ich sah auf – der Archivar verfolgte vor einem kleinen Fernseher die Entwicklung des Ätna. Unauffällig steckte ich die Fotos in meinen Mantel. Es gab Schlimmeres. Ein Foto des gefolterten Leichnams, die anthropometrische Aufnahme Agostinas und eine andere, auf der sie unter ihrer blauen Haube aussah wie ein Engel. Ich ordnete die Umschläge wieder chronologisch und legte sie auf die Theke. Mit der Hand grüßte ich den Hüter der Schätze.
       Ich wollte nach Paterno fahren.
       Ich wollte den Schauplatz des Konflikts in Augenschein nehmen.

KAPITEL 59
    Das frühere Wohnviertel bestand aus Sozialwohnungen, wobei die Gebäude jeweils in Viererblocks angeordnet waren. Solche Viertel waren in den fünfziger Jahren überall in Italien aus dem Boden gestampft worden. Dieser Strom erinnerte mich an einen Vulkanausbruch, dessen Lavastrom alles in Stein verwandelte, wie in Pompeji. Hier waren Elend, Arbeitslosigkeit und die Isolation der ärmsten Klassen gleichsam in Beton gegossen.
       Es fehlte kein einziges Detail. Schmutzige Fassaden, Gärten, die an unbebaute Grundstücke erinnerten, Gemüsegärten neben Parkplätzen, auf denen Karosseriegerippe vor sich hin rosteten, verkümmerte Bäume, die alte Spielplätze einrahmten. Ich setzte meinen Weg fort, kam an umgestürzten Straßenlaternen und staubigen Fußballplätzen vorbei. Das war nicht nur ein vernachlässigtes Viertel, das war eine Welt, wo der Tod ein Dauerzustand war. Sonst hatte es keine Zukunft.
       Ich sah eine Kapelle in Fertigbauweise mit einem Wellblechdach neben einer öffentlichen Mülldeponie. Ich stellte mir die Einwohner des Viertels vor, die hier für die Heilung Agostinas beteten und für ihre Reise nach Lourdes zusammenlegten. Dieses Bild rief eine Erinnerung wach. Die Worte Agostinas in ihrem Interview: »Ich war ein ganz gewöhnlicher Mensch, eine Unbekannte unter Unbekannten. Und eben aus diesem Grund hat mich die Jungfrau Maria erwählt, wie ich glaube.« Und in der gleichen Weise konnte es keinen besseren Ort geben, um die Geschichte Agostinas aufzunehmen. Denn Paterno war die Stein gewordene Gesichtslosigkeit.
       Man berührte hier das Wesen der katholischen Überlieferung – der Geburt im Stall, des Almosens und der nackten Füße. Jener Überlieferung, die verkündete: »Selig, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet satt werden« und »Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen«, und dass die irdische Not den Weg in die himmlische Glückseligkeit ebnet.
       Ich fand das Gebäude, in dem Agostina gewohnt hatte: palazzina D, scala A. Ihre Adresse stand unten auf ihrem Polizeifoto. Ich stieg aus meinem Wagen aus. Ich war gekommen, um mir einen persönlichen Eindruck von dem Ort zu verschaffen. Mir wurde gleich klar, dass ich dies vergessen konnte. Die Atmosphäre war stickig. Ein durchdringender Schwefelgeruch schlug mir mit der Gewalt eines Sturms entgegen.
       Ein Mann kam aus dem Gebäude heraus, einen Schal um die untere Hälfte seines Gesichts gewickelt. Ich schlug den Kragen meines Mantels über meinen Mund und lief auf ihn zu. Ich fragte ihn, was hier los sei. Der Mann antwortete mir durch seinen Schal:
       »Das sind die Salinellen! Hänge aus salzhaltigem Schlamm, die unser Viertel umgeben. Wenn der Ätna ausbricht, strömen überall Gase aus. Unsere kleinen Privatvulkane sozusagen! Sie sind in der Region bekannt!«
       Ich machte rasch ein paar Fotos und kehrte zu meinem Wagen zurück, eine Stelle suchend, wo ich vor den Gasen sicher wäre. Ich hielt einige Blocks weiter in der Nähe eines verwaisten Spielplatzes, wo der Geruch erträglich war. Ein Klettergerüst und alte Schaukeln. Nicht schlecht für eine einsame Meditation.
       Zum Klang von Seilen, die im Wind quietschten, nahm ich meinen Gedankengang wieder auf. Ich war mir nicht sicher, ob ich an die Wunderheilung Agostinas glaubte. Ich misstraute instinktiv spektakulären Manifestationen göttlicher Kräfte. Seit meinem Aufenthalt in Ruanda war ich ein Anhänger eines strengen, einsamen, verantwortungsbewussten Glaubens. Es gab keine göttlichen Eingriffe in irdische Abläufe. Er hatte uns des Leibes Notdurft gegeben. Er hatte uns seine Botschaft mitgeteilt und

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