Das Herz der Hoelle
während meines Studiums so oft gehört hatte – insbesondere an jene Phrase, als die Heldin zum ersten Mal dem Chevalier Des Grieux begegnet: »Jemand! Schnell zu meiner Bank aus Stein …«
Drei Schritte noch, und eine heftige Erregung durchzuckte mich, als hätte mich eine Kugel in die Brust getroffen.
Sie war da. Manon Simonis.
Das Phantom, mit dem ich seit Tagen umging, ohne zu wissen, ob es wirklich existierte. Sie saß auf einer Bank bei der Säule, den Kopf über ein Buch geneigt. Ich hatte mir nicht vorstellen können, wie sie heute wohl aussah, da sich bei mir das Bild des kleinen Mädchens mit den weißen Augenbrauen festgesetzt hatte. Aber ich hätte mir niemals die Erscheinung ausmalen können, die sich vor mir abzeichnete.
Manon hatte jetzt hellbraunes Haar, und ihre Statur hatte nichts mehr mit dem schmächtigen Kind auf den Fotos gemein. Sie war eine athletische Frau mit kräftigen Schultern geworden. Unter einem weißen Pullover mit großen Fransen zeichneten sich üppige Formen ab – und ihre Hände erschienen mir aus der Entfernung riesengroß.
Ich ging noch näher heran und konnte ihr Profil erkennen. Erst jetzt fand ich die vollkommenen Gesichtszüge des Kindes aus Sartuis wieder. Die gerade, sanfte Nase war von mustergültiger Ebenmäßigkeit. Sie wurde überragt von zwei großen niedergeschlagenen Augen. Manon las. Ihr konzentrierter Gesichtsausdruck wurde durch eine hochgezogene Braue unterstrichen, und sie trug eine Hippie-Frisur.
Ich hustete. Sie hob den Kopf und lächelte mir zu. Im gleichen Moment hatte ich das Gefühl, von einer starken Kraft erschüttert zu werden, die mich förmlich aus mir selbst herausschleuderte. Eine Blendung. Aber nicht ich selbst erlebte es. Es war ein zweites, äußeres Bewusstsein, wie ein geflohener Doppelgänger meines Ichs, der die Wirkung des Erlebnisses auf den wahren Mathieu abschätzte. Gleichzeitig flüsterte mir eine Stimme zu: »Du bist bereit. Deine Ermittlungen waren letztlich nur eine Vorbereitung auf diese Begegnung.«
»Sind Sie der französische Polizist?«
Sie lächelte, und zwischen ihren leicht geöffneten Lippen schimmerten ihre Schneidezähne wie Elfenbein. Manon rückte zur Seite, um mir auf der Bank Platz zu machen. Diese Bewegung ließ ihre üppigen Formen hervortreten. Aus dem blassen Mädchen war eine junge Frau geworden, die an die weißen und rosafarbenen Pinup-Girls der Playboy -Kalender erinnerte. Sie schwenkte ihr Buch mit dem vergilbten Deckel:
»Sie haben hier ein paar französische Bücher. Nur religiöses Zeug. Ich kenne es schon auswendig.«
Sie zählte die Titel auf, aber ich hörte sie nicht. All meine Sinne waren durch den Schock dieser Begegnung wie betäubt. Als hätte mich eine Detonation halb taub gemacht, oder als wäre ich durch ein starkes Licht geblendet worden. Ich bemühte mich, in die Gegenwart zurückzukehren.
»Wissen Sie, warum ich hier bin?«, fragte ich.
»Andrzej hat es mir gesagt. Sie sind hier, um mich zu befragen.«
»Mein Besuch scheint Sie nicht zu überraschen.«
»Ich verstecke mich seit drei Monaten. Ich habe damit gerechnet, dass man mich aufspürt. Der Polizei scheint es großen Spaß zu machen, mich zu vernehmen.«
Was wusste sie über den neuesten Stand der Ermittlungen? Wusste sie von Lucs Selbstmordversuch? Von dem Tod Stéphane Sarrazins? Nein. Wer hätte sie hier, zwischen diesen schmucklosen Mauern, informieren sollen. Zamorksi mit Sicherheit nicht.
Ich setzte mich auf die Bank. Mit einem Geschmack von Papier im Mund fuhr ich fort:
»Ich bin kein Ermittler. Zumindest nicht in dem Sinne, den Sie damit verbinden. Ich habe keinen offiziellen Auftrag.«
»Was tun Sie dann hier?«
»Ich bin ein Freund von Luc, Luc Soubeyras.«
Sie schüttelte ruckartig den Nacken. Ihr Lächeln verschwand hinter glatten Haarsträhnen. In dem Dämmerlicht erinnerte sie an die Fotos von David Hamilton oder an die Bilder der »Flower Power« der siebziger Jahre. Halsketten aus Samen und Blumen im Haar. Ich war zu jung, um diese Epoche gekannt zu haben – aber ich hatte sie mir immer als eine gesegnete Zeit vorgestellt. Eine Ära des Idealismus, der Revolte, des Ausbruchs musikalischer Kreativität. Vor mir befand sich eine dieser Feen der Vergangenheit.
»Wie geht es ihm?«, fragte sie beiläufig.
»Sehr gut«, log ich. »Er wurde versetzt. Ich führe jetzt die
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