Das Herz der Hoelle
Ermittlungen insgeheim weiter.«
»Dann haben Sie die Reise umsonst gemacht.«
»Wieso?«
»Ich kann Ihnen nichts sagen.«
Sie neigte den Kopf zur Seite und deklamierte in leierndem Tonfall:
»Erinnern Sie sich, was am 12. November 1988 geschehen ist? Nein. Wissen Sie, wer Sie in dem Brunnen zu ertränken versucht hat? Nein. Erinnern Sie sich an das anschließende Koma? Nein. Verdächtigen Sie irgendjemanden des Mordes an Ihrer Mutter? Nein. Ich könnte lange so weitermachen … Auf alle Fragen habe ich nur eine Antwort: Nein.«
Ich schloss die Augen und atmete den intensiver werdenden Duft von Pflanzen und Laub ein. Mit der Dämmerung war die Feuchtigkeit gekommen. Es war ein Gewitter, das sich zusammenbraute, aber in einer kälteren, drückenderen Version als im Jura. Ein polnisches Gewitter. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit hatte ich keine Lust zu rauchen. Auf dem Einband des Buches las ich den Titel Die enge Pforte von André Gide.
»Gefällt es Ihnen?«, sagte ich, da mir nichts Besseres einfiel.
Sie machte ein unschlüssiges Gesicht. Sie hatte fleischige Lippen. Langsam regte sich eine Kraft in mir. Wie sahen wohl die Höfe ihrer Brustwarzen aus? Weich und rosa wie dieser Mund? Kein heißes, befremdliches, beschämendes Verlangen, wie ich es gegenüber der Direktorin des Gefängnisses von Malaspina empfunden hatte. Sondern ein getragenes, voll entwickeltes, von jedem Gedanken abgelöstes Begehren.
Ich bohrte nach:
»Mögen Sie diese Geschichte nicht?«
»Ich finde sie … schwach.«
»Können Sie mit der Suche der jungen Frau nichts anfangen?«
»Für mich ist die Religion ein Fenster, das weit offen steht. Gewiss nicht dieses engstirnige Zeug aus diesem Roman.«
Als Jugendlicher hatte ich das Buch Gides zwanzig Mal gelesen. Das Schicksal einer jungen Frau, die Gott ihrem Verlobten, die geistliche Liebe der fleischlichen Sinnenlust vorgezogen hatte. Heute erinnerte ich mich nur noch an die beiden Jugendlichen im Buch, die wie Tote sprachen.
Ich wagte einen Kommentar:
»Gide spricht von der Selbstaufopferung, die die Gemeinschaft mit Gott verlangt. Diese Herausforderung ist eine Pforte, ein Durchgang, ein Filter. Am Ende findet man die Reinheit, die …«
Sie wischte meine Überlegungen mit lässiger Geste beiseite. Ich stellte mir noch einmal ihre Rundungen unter dem Pullover vor, das Gespinst der blauen Äderchen auf ihrer weißen Haut.
Die Hitze in mir nahm ständig zu. Eine unwiderstehliche und vertraute Empfindung. Ich hatte eine Erektion.
»Was für ein Opfer?«, fragte sie mit festerer Stimme. »Man soll sich selbst zerstören, um zu Gott zu gelangen? Das Gegenteil ist wahr! Man muss man selbst sein, sich selbst zuhören, um das Seelenheil zu finden. Das ist die Botschaft Christi: Gott ist in uns!«
»Sind Sie Katholikin?«
»Wenn ich es nicht wäre, wäre ich es geworden. Alles andere spielt doch keine Rolle!«
Sie blätterte mechanisch in ihrem Buch. Sie machte plötzlich ein ernstes Gesicht. Mir wurde klar, dass die erste Manon nur das Vorzimmer zu einer zweiten, verborgenen Manon war. Ihr Gesicht war jetzt hart, angespannt, finster. In der jungen Frau schlummerte eine zweite Person, die ernst, streng und verängstigt war. Eine Schönheit der Nacht.
Mir wurde bewusst, dass sie noch immer sprach:
»Verzeihung, es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren …«
Sie lachte rau, fast männlich. Doch sofort kam das Lichtwesen wieder zurück. Ihre kleinen Schneidezähne schimmerten zwischen ihren Lippen so hell wie unvergängliche Schneeflocken:
»Wollen wir uns nicht duzen? Ich habe gerade gesagt, dass ich hier nicht viel Besuch bekomme.«
»Sie … langweilst du dich?«
»Ich langweile mich zu Tode, um es deutlich zu sagen.«
Unsere Antworten wirkten festgelegt wie in einem Film, nur dass sie nicht logisch, nicht aufeinander abgestimmt waren, als wären die Seiten des Drehbuchs durcheinandergeraten.
»Früher«, fuhr Manon fort, »habe ich Biologie studiert. Ich hatte Freunde, Prüfungen, ging in Cafés, in denen ich gern Zeit vertrödelte. Ich war von meinen alten Ängsten, meiner ewigen Wachsamkeit kuriert …«
Sie hatte ein Bein angewinkelt und spielte an den Fransen ihrer Jeans:
»Und dann kam der letzte Sommer. Meine Mutter verschwand. Ich musste mich allein all den Fragen der
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