Das Herz der Hoelle
griff nach der Klinke, doch dann besann sie sich anders:
»Ich wollte dir etwas sagen. Ich habe mich wieder an ein Detail erinnert.«
»Was?«
Ich stand unwillkürlich auf, wischte mir die Hände an der Hose ab. Ich war mit Staub bedeckt.
»Eines Tages habe ich ihn gefragt, was er in dieser Rumpelkammer tue. Er hat mir nur geantwortet: ›Ich habe den Schlund gefunden.‹«
»Den Schlund? Sonst hat er nichts gesagt?«
»Nein. Er war völlig außer sich.« Sie verstummte, plötzlich von ihren Erinnerungen übermannt. »Falls du doch in der Nacht weggehst, zieh die Tür hinter dir ins Schloss. Und vergiss nicht die Messe übermorgen.«
»Ich habe den Schlund gefunden.« Was hatte er damit gemeint? War es ein Schlund im anatomischen oder im übertragenen Sinne? Meinte er den Körperteil oder einen Schlund im Sinne der gähnenden Öffnung eines Kraters, einer Schlucht oder eines steinernen Brunnens?
Die Stunden vergingen. In Gesellschaft von Teufelsfresken Fra Angelicos und Giottos, bildlicher Darstellungen des Widersachers von Grünewald und Breugel dem Älteren, des Teufels mit Rattenschwanz von Hieronymus Bosch, des Teufels, der in ein Schwein gefahren ist, von Dürer, der Hexen Goyas, des Leviathans von William Blake …
Um 3 Uhr morgens nahm ich die letzte Ablage in Angriff. Als ich die Aktenmappen aufschlug, sah ich, dass sie keine Fotoabzüge enthielten, sondern medizinische Aufnahmen. CT-Aufnahmen und Kernspintomogramme von Gehirnen. Ich las die Legenden. Psychisch Kranke in akuten Krisen, vor allem gewalttätige Schizophrene.
Man musste kein Genie sein, um Lucs Denkweise zu erraten. Seines Erachtens waren diese Aufnahmen, die pathologische Prozesse im Innern des Gehirns sichtbar machten, sozusagen die zeitgenössischen Darstellungen des Teufels. Der Sinn und Zweck dieses Archivs lag auf der Hand: Eine umfassende Sammlung aller Erscheinungsformen des Bösen.
Ich sah diese Archivunterlagen schnell noch einmal durch und fischte einige Fotos heraus, die ich entweder selbst behalten oder an Svendsen weitergeben wollte. Erschöpft setzte ich mich hinter den Schreibtisch – ich hatte keine Kraft, um jetzt aufzubrechen. Meine Gedanken wurden immer verschwommener, und ich fühlte mich immer schlechter.
Es lag nicht nur an der Müdigkeit. Seitdem ich begonnen hatte, das Arbeitszimmer zu durchsuchen, hatte mir eine Sache keine Ruhe gelassen: Ruanda. Die schlichte Tatsache, dass ich mich in der Nähe der Bilder des Massakers befand, hatte mir für die Nacht die Stimmung verhagelt. Aber meine Neugier war stärker als meine Erschöpfung, und so konnte ich nicht widerstehen.
Ich war bereit für einen Abstecher in die Hölle, für den Abstieg in den Brunnen meiner Erinnerungen.
KAPITEL 13
Als ich Ruanda entdecke, existiert dieses Land nicht, zumindest nicht für den Rest der Welt.
Es ist eines der ärmsten Länder der Erde, das jedoch weder von Kriegen, Hungersnöten oder Naturkatastrophen betroffen war; nichts, was einen dazu veranlassen könnte, ein Rockkonzert zu organisieren, nichts, was die Aufmerksamkeit der Medien auf sich ziehen könnte.
Ich lande im Februar 1993. Das Weitere ist absehbar. Ruanda bebt vor Hass. Ein Hass, der die Minderheit von der Volksgruppe der Tutsi, einem großwüchsigen, stolzen Menschenschlag, dem Volk der Hutu gegenüberstellt, die eher kleinwüchsig und gedrungen sind und neunzig Prozent der Einwohner des Landes stellen.
Ich beginne meine humanitäre Arbeit bei den unterdrückten Tutsi. Ihnen gegenüber Hutu-Milizionäre, die mit Gewehren, Knüppeln und, schon jetzt, Macheten bewaffnet sind. Überall im Land schlagen und töten sie ihre Feinde, brennen deren Hütten nieder, ohne befürchten zu müssen, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Wir von der Hilfsorganisation »Terres d’espoir« fahren mit Lebensmitteln und Medikamenten kreuz und quer durchs Land, wobei wir an jeder Hutu-Straßensperre langwierige Verhandlungen führen müssen und immer zu spät eintreffen. Ganz zu schweigen von den Unwägbarkeiten der humanitären Arbeit als solches: falsche oder verzögerte Lieferungen, bürokratische Hemmnisse …
Ende 1993
In den Straßen von Kigali hallen die Hassbotschaften des Senders RTML (Freies Radio und Fernsehen der Tausend Hügel) wider, der das Sprachrohr der Hutu ist und zur Ermordung der »Kakerlaken« aufruft. Diese Stimme verfolgt mich bis in die Krankenstation, in der
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