Das Herz der Hoelle
ich übernachte. Sie ertönt in den Straßen, den Gebäuden, dringt ein in den Putz der Mauern, in die schwüle Luft.
1994
Der Völkermord wirft seine Schatten voraus. Fünfhunderttausend Macheten werden eingeführt. Immer mehr Straßensperren werden errichtet. Erpressungen, Gewalt, Demütigungen … Nichts kann die »Hutu Power« aufhalten. Weder die Regierung noch die UNO, die ohnmächtige Truppen entsandt hat. Und immer wieder, gebetsmühlenartig, die Stimme der Tausend Hügel: »Erst wenn Blut ist vergossen, sind wir echte Volksgenossen! Bald wird uns niemand mehr stören, und alles Land wird uns gehören. Das Volk ist die Macht!«
Jeden Morgen und jeden Abend bete ich. Ohne Hoffnung. In diesem Land, das zu neunzig Prozent katholisch ist, hat Gott uns verlassen. Diese Gottverlassenheit ist in den roten Laterit eingeschrieben. Sie klingt in der Stimme des schrecklichen Radiosenders an: »Dies sind die Namen der Verräter: Sebukiganda, Sohn des Butete, der in Kidaho lebt; Benakala, der die Kneipe in … führt … Tutsi: Wir werden euch die Beine kürzen!«
April 1994
Das Flugzeug des Hutu-Präsidenten Juvenal Habyarimana explodiert.
Niemand weiß, wer dafür verantwortlich ist. Vielleicht verbannte Tutsi-Rebellen oder Hutu-Extremisten, die ihren Präsidenten für zu schwach halten. Oder auch eine ausländische Macht aus Gründen, die im Dunkeln liegen. Jedenfalls ist dies das Signal für das Massaker. »Ihr hört RTLM. Ich habe heute Morgen einen kleinen Joint geraucht. Ich grüße die Männer an der Straßensperre … Keine Kakerlake soll euch entkommen!«
An jeder Straßensperre werden die Ausweispapiere verlangt. Tutsi, die auf diese Weise identifiziert werden, werden ausgesondert, ermordet und in frisch ausgehobenen Massengräbern verscharrt. Innerhalb von nur drei Tagen zählt man in der Hauptstadt mehrere Tausend Tote. Die Hutu organisieren sich. Sie haben ein Ziel: Tausend Tote alle zwanzig Minuten!
In Kigali erhebt sich ein Geräusch, das ich nie vergessen werde. Der Klang von Macheten, die über den Asphalt scheuern, als Drohung, als Zeichen der Freude. Die Klingen rasseln über die Straßen, bevor sie auf Körper einschlagen. Die blutverschmierten Klingen heulen, nachdem sie getroffen haben …
Die Ausländer werden evakuiert. Bei »Terres d’espoir« beschließt man, zu bleiben. Wir ziehen ins französische Kulturinstitut um, wo die französischen Soldaten ihre Basis eingerichtet haben. Tutsi suchen hier Zuflucht und Schutz, aber die Soldaten brechen ihre Zelte bereits ab. Ich muss den Flüchtlingen erklären, dass wir nichts für sie tun können. Ich muss ihnen erklären, dass Gott tot ist.
Es gelingt mir, mit den letzten verbliebenen Blauhelmen – die UNO hat neunzig Prozent ihrer Truppen abgezogen – eine Erkundungsfahrt zu unternehmen. Erst jetzt bemerke ich die Massengräber, die die Straßen blockieren, die Berge von Leichen mit heruntergezogenen Hosen. Das Holpern des Wagens, wenn wir über Leichen fahren, geht mir durch Mark und Bein. Ich sehe Geisterdörfer, übersät von Blutlachen. Ich sehe aufgeschlitzte Schwangere, deren Feten an Bäumen zerschmettert wurden. Ich sehe vergewaltigte junge Mädchen – man sucht die Jungfrauen aus, um sich nicht mit Aids anzustecken. Nachdem sich die Männer an ihnen vergangen haben, penetrieren sie sie mit Stöcken und Flaschen, die sie in ihrer Vagina zertrümmern.
Ich kann nicht sagen, wann ich meinen ersten Nervenzusammenbruch habe.
Vielleicht Ende Mai, bei den Säuberungsaktionen, als man die halb verwesten Leichen mit Diesel übergießt und verbrennt. Vielleicht auch später, zu Beginn der Operation Türkis, der ersten größeren humanitären Hilfsaktion, die unter französischer Schirmherrschaft in Ruanda organisiert wird. Nur eines ist sicher: Der Zusammenbruch ereignet sich in einem der Flüchtlingslager, in denen Epidemien den Völkermord gleichsam verlängern.
Zunächst ist mein linker Arm gelähmt. Man vermutet einen Infarkt. Doch ein Arzt von »Ärzte ohne Grenzen« kommt zu einem anderen Befund und ist überzeugt davon, dass meine Symptome keine organische Ursache haben. Anders gesagt, alles geschieht in meinem Kopf. Rückführung nach Frankreich. Richtung: Klinikum Sainte-Anne in Paris.
Ich lasse mich gehen. Ich kann nicht mehr sprechen. Ich habe geglaubt, das unfassbare Grauen einfach wegstecken zu können. Ich habe geglaubt, damit leben zu können, so wie man mit einer
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