Das Herz der Hoelle
unterschiedlichen Verwesungsstadien seien auf die Witterungsverhältnisse zurückzuführen. Auch ich habe dies herumerzählt, um die Leute zu beruhigen. Aber das ist natürlich Unsinn, wie Sie sicher wissen. Unter normalen Bedingungen dauert es drei Jahre, bis eine Leiche vollständig verwest ist. Wie konnte sich die untere Körperhälfte so stark zersetzen? Der Mörder hat dieses Phänomen gezielt herbeigeführt. Er hat jede Phase der Zersetzung geplant und künstlich erzeugt.«
Ich betrachtete noch einmal die Fotos, während Valleret mitgesenkter Stimme die folgenden Verse aufsagte:
»Die Sonne brannte so auf dies verfaulte Leben,
Als koche sie es gar,
Und wolle der Natur in hundert Teilen geben,
Was sie als eins gebar.«
Ein Gerichtsmediziner mit poetischer Ader! Er und Svendsen passten gut zusammen. Ich kannte diese Zeilen. Ein Aas von Charles Baudelaire.
»Als ich die Leiche sah, musste ich sofort an diese Strophe denken«, bemerkte er. »Diese Bluttat hat eine künstlerische Dimension. Eine ästhetische Perspektive, ein wenig wie auf kubistischen Gemälden, die sämtliche Blickwinkel auf einen Gegenstand in einer Ebene darstellen.«
»Wie, wie hat er das hingekriegt?«
Der Arzt ging um den Tisch herum und stellte sich neben mich.
»Seit Juni geht mir diese Leiche nicht mehr aus dem Sinn. Ich versuche mir die Techniken des Mörders vorzustellen. Meiner Meinung nach hat er bei den am stärksten zersetzten Körperteilen Säuren verwendet. Weiter oben hat er Chemikalien unter die Haut und in die Muskeln gespritzt, um dieses pergamentartige Aussehen zu erreichen. Diese unterschiedlichen Verwesungsstadien erfordern ferner eine gezielte Wärmebehandlung und Beleuchtung, denn Wärme beschleunigt organische Prozesse …«
»Die Leiche wurde also erst später auf die Lichtung gebracht?«
»Natürlich. All dies geschah in einem geschlossenen Raum. Vielleicht sogar in einem Labor.«
»Glauben Sie, dass der Mörder eine Ausbildung als Chemiker hat?«
»Zweifellos. Und er hat Zugang zu sehr gefährlichen Produkten.«
Der Gerichtsmediziner griff zwei Fotos heraus und legte sie auf die anderen.
»Betrachten wir zwei Beispiele. Hier sieht man, wie sich die Hüften und das Geschlechtsorgan wässrig zersetzen: Sechs bis zwölf Monate nach dem Tod treten Körpersäfte aus und das Fleisch verflüssigt sich. Hier ist der obere Bauchraum im Stadium der Gasbildung: Ammoniakgärung, Verdunstung jauchiger Flüssigkeiten. All dies wurde hervorgerufen, in die Länge gezogen, gesteuert … Dieser Psychopath ist ein echter Dirigent.«
Ich versuchte mir den Mörder »bei der Arbeit« vorzustellen. Ich sah nichts. Nur ein Schatten, das Gesicht maskiert, in einem Operationssaal über sein Opfer gebeugt, mit Spritzen und unbekannten Instrumenten hantierend. Valleret fuhr fort:
»Da gibt es noch etwas wirklich Merkwürdiges … Ich habe im Brustkorb Flechten gefunden, die man dort nicht erwarten würde. Ich meine, Flechten, die nichts mit der Verwesung zu tun haben. Ein körperfremder Stoff, den er zu beiden Seiten des Oberkörpers injiziert hat.«
»Was für eine Art von Flechte?«
»Das weiß ich nicht genau, aber sie hat eine Besonderheit: sie leuchtet. Als die Rettungsmannschaft den Leichnam gefunden hat, leuchtete der Brustkorb von innen. Nach Aussage der Sanitäter glich er einem echten Halloween-Kürbis mit einer Kerze darin.«
Eine Frage ging mir nicht aus dem Kopf: Weshalb? Weshalb hatte jemand so viel Aufwand mit der Präparierung der Leiche getrieben?
»Bei anderen Körperteilen ist es ›einfacher‹«, fuhr der Gerichtsmediziner fort. »Die Schultern und die Arme waren gerade erst in den rigor mortis gefallen, der ungefähr sieben Stunden nach dem Tod einsetzt und sich im Verlauf einiger Tage wieder löst. Was den Kopf betrifft …«
»Der Kopf?«
»Er war noch lauwarm.«
»Wie hat der Mörder das hingekriegt?«
»Damit hat es nichts Besonderes auf sich. Als die Frau gefunden wurde, war sie gerade verstorben, das ist alles.«
»Sie wollen sagen …«
»Dass Sylvie Simonis all diese Torturen bei vollem Bewusstsein durchlitten hat. Sie ist vor Schmerzen gestorben. Ich kann Ihnen den genauen Zeitpunkt nicht nennen, aber es war am Ende ihrer Marter. Ihre frische Gesichtsfarbe bestätigt das. Ich habe in dem,
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