Das Herz der Hoelle
Das einfachste und erhellendste Gebet. Der Stock, auf den ich mich auf meinem Lebensweg immer gestützt hatte. Dieses »Vaterunser«, das waren meine kraftlosen Knie in den ersten Messen, wo ich es nicht erwarten konnte, spielen zu gehen, und daher die Worte nur so aus mir hervorschossen. Das totale Eintauchen in Saint-Michel-de-Sèze, als ich die Tiefe meines Glaubens entdeckte. Die inbrünstige Litanei des künftigen Priesters, der von den Glocken Roms elektrisiert wurde. Dann der Hilferuf in Afrika, eingerahmt vom Leichengestank und Rasseln der Macheten. Schließlich war es das Gebet des Polizisten, aufgesagt in den Kirchen, in die ich ungeplant einkehrte, um mich von meinen Verbrechen zu reinigen.
»Vater unser im Himmel,
geheiligt werde dein Name …«
Ein schrilles Geräusch hallte im Gang wider.
Ich fuhr zusammen und spitzte die Ohren. Nichts. Ich schlug die Augen nieder: Schon hielt ich meine 9-mm-Pistole in der Hand. Ich hatte unwillkürlich danach gegriffen. Ich lauschte nochmals. Nichts. Ich dachte an eine Alarmsirene. Einen Feueralarm.
In dem Moment, wo sich mein Körper entspannte, ertönte der Missklang erneut – lange, schrill und hartnäckig. Ich stürzte zur Tür. Als ich sie öffnete, war wieder alles ruhig. Ich stellte mich in die Tür und warf einen Blick in den Gang. Niemand zu sehen. Links die Brandschutztür des Pfarrhauses. Rechts die Glastür nach draußen. Nichts rührte sich.
Meine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf den Holzverschlag, der nur wenige Meter vom Notausgang entfernt war. Mir wurde klar, was ich gerade gehört hatte. Die Glocke am Beichtstuhl. Der Vorhang einer Kabine flatterte.
Vielleicht der schnarchende Pater Mariotte? Ich steckte meine Heckler & Koch in das Gürtelholster und ging langsam auf die Box zu. In fünf Metern Entfernung blieb ich stehen. Ein grünlicher Schimmer drang durch den Vorhang. Ich dachte kurz daran, wieder die Pistole zu ziehen, überlegte es mir dann aber anders und ging lautlos weiter.
Ich griff nach dem Vorhang und zog ihn mit einem Ruck beiseite.
Die Zelle war leer.
Aber quer über die hintere Trennwand verlief eine Inschrift.
Intuitiv erkannte ich das Material, das auf das schwarze Holz genagelt war.
Die gleiche lumineszierende Flechte, die auch den verwesten Leichnam von Sylvie Simonis schmückte.
Die Inschrift lautete:
ICH HABE DICH ERWARTET.
KAPITEL 34
Der Köder bewegte sich leicht an der Wasseroberfläche.
Mit den Augen folgte ich der Schnur und gewahrte zwischen dem Blattwerk das Ende der Angelrute. Ich erinnerte mich daran, dass man diesen dünnen Faden »Fliegenschnur« nannte. Der Nylonfaden funkelte im morgendlichen Licht – es war kurz vor zehn.
Nachdem ich die unheimliche Inschrift entdeckt hatte, machte ich einen Rundgang durch das Pfarrhaus und seinen Anbau: niemand. Ich hatte Mariotte geweckt, der dazu lediglich meinte: »Vandalismus. Reinster Vandalismus.« Es fiel mir nicht schwer, ihn dazu zu bringen, die Gendarmerie nicht anzurufen. Ihm zufolge war es nicht der erste feindselige Akt gegen seine Pfarrei.
Ich hatte angeboten, das »Graffito« zu entfernen. Mariotte war wieder zu Bett gegangen, ohne sich lange bitten zu lassen, und ich hatte in aller Ruhe Proben von der frischen Flechte genommen, nachdem ich die Szene fotografiert hatte. Als mein digitaler Blitz dieses »ICH HABE DICH ERWARTET« mehrfach aufleuchten ließ, wurde mir klar, dass sich dieser Satz an mich richtete.
Ich machte kein Auge zu. Ich hatte meinen tragbaren Mac eingeschaltet und alles notiert, was sich seit meiner Ankunft ereignet hatte. Ein gutes Mittel, um nicht über denjenigen nachzudenken, der diese pflanzliche Inschrift im Beichtstuhl angebracht hatte. Ich baute die Fotos ein, die ich geschossen hatte, und scannte die Dokumente, die ich besaß: den Bericht Vallerets, die Landkarte der Region, auf der ich jeden Ort und jede Person verzeichnete, die ich aufgesucht hatte, die Notizen von Plinkh …
Um 6 Uhr morgens fand ich im Büro des Pfarrhauses einen Kopierer. Ich kopierte den Obduktionsbericht zwei Mal, einmal für Foucault und einmal für Svendsen, dann machte ich das Paket für den Schweden fertig – die Proben der lumineszierenden Flechte, den Skarabäus, die Flechte von der Leiche von Sylvie.
Ich zögerte, auch das Kruzifix zu schicken – ein banaler liturgischer Gegenstand von
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