Das Herz der Hoelle
Kluft zwischen den beiden trat zutage. Frédéric verfiel dem Alkohol, während Sylvie in ihrem Beruf eine steile Karriere machte. Sie arbeitete in einer Werkstatt, für Rolex, Cartier, Jaeger-Le-Coultre, die größten Namen. Für arabische Prinzen und Bankiersfamilien baute sie Uhren von unschätzbarem Wert zusammen … Der einzige Berührungspunkt der beiden war ihre Tochter, die sie abgöttisch liebten. Der Haken waren die Schwiegereltern. Sie haben Sylvie nicht riechen können. Nach Frédérics Tod wollten sie Manon sogar zu sich holen. Aber da hatten sie sich verkalkuliert. Trotz ihrer Kohle haben sie nichts erreicht. Sylvie war eine mustergültige Mutter.«
»Weshalb hat Sylvie nach dem Tod Manons die Region nicht verlassen? Die Ermittlungen, die Gerüchte, die Beschuldigungen, die Erinnerungen: Wieso hat sie sich all dem nicht entzogen? In Sartuis hielt sie schließlich nichts mehr.«
Chopard schenkte sich nach.
»Das haben alle erwartet. Aber niemand konnte sie beeinflussen. Außerdem hatte sie gerade ein Haus gekauft. Ein in der Region sehr bekanntes Gebäude. ›Das Uhrenhaus‹, das von einer berühmten Uhrmacherfamilie erbaut worden war. Für Sylvie ging damit ein Traum in Erfüllung. Sie hat sich selbstständig gemacht, sich dort vergraben und an den Uhrwerken herumgetüftelt. Ihr Aufstieg ging weiter. Trotz der Tragödien. Trotz der Feindseligkeit der anderen.«
»Feindseligkeit?«
»Sylvie war in Sartuis nie beliebt. Hart, begabt, stolz und vor allem: von außerhalb. Sie stammte aus Lothringen. Als in den achtziger Jahren der wirtschaftliche Niedergang der Region einsetzte, hat sie auf der anderen Seite der Grenze Arbeit gesucht. In den Augen der anderen beging sie damit Verrat. Ganz abgesehen davon, dass nach dem Tod ihrer Tochter die halbe Stadt sie für die Täterin hielt, obwohl sie ein Alibi hatte.«
»Was für ein Alibi?«
»Zum Tatzeitpunkt wurde ihr im Krankenhaus von Sartuis eine Eierstockzyste entfernt.«
Chopard stand auf und griff nach den Angelruten und dem Koffer. Ich bot ihm meine Hilfe an. Er lud mir die beiden Körbe auf. Ich ging hinter ihm her.
»Besteht Ihrer Meinung nach zwischen den Morden eine Verbindung?«
»Es ist ein- und derselbe Täter.«
»Nach dem, was ich weiß, sind die Methoden recht verschieden gewesen …«
»Zwischen den beiden Morden sind vierzehn Jahre vergangen. Da kann man sich weiterentwickeln, oder?«
Ich ging schneller, um auf gleicher Höhe mit ihm zu sein:
»Aber was für ein Motiv käme in Betracht? Wieso sollte jemand hinter den Simonis her sein?«
»Das, mein Lieber, ist der Schlüssel zur Lösung des Rätsels. Jedenfalls lässt sich der Mord an Sylvie nicht verstehen, wenn man sich nicht vorher mit dem Mord an Manon befasst hat.«
»Können Sie mir dabei helfen?«
»Aber klar. Ein Jahr lang habe ich jede Woche einen Artikel über den Fall geschrieben. Ich habe alles aufgehoben.«
»Könnte ich die Artikel lesen?«
»Sind schon unterwegs!«
KAPITEL 35
Courrier du Jura, 13. November 1988 TRAGISCHER TODESFALL IN SARTUIS
Sartuis, die berühmte Stadt der Uhrmacher in der Region Haut-Doubs, ist von einer schrecklichen Tragödie heimgesucht worden. Gegen 19 Uhr des gestrigen Tages, dem 12. November 1988, wurde die Leiche der achtjährigen Manon Simonis auf dem Grund eines Brunnenschachts in der Nähe der städtischen Kläranlage gefunden. Nach Aussage des Oberstaatsanwalts von Besançon handelt es sich zweifelsfrei um ein Verbrechen.
Wie jeden Tag hat Martine Scotto Manon um 16.30 Uhr an der Schule abgeholt. Das Kind und seine Tagesmutter sind zu Fuß in die Cité des Corolles am Stadtrand von Sartuis gegangen, wo Madame Scotto wohnt. Mittlerweile war es 17 Uhr. Nachdem Manon eine Kleinigkeit gegessen hatte, ist sie auf den Spielplatz der Siedlung gegangen, der unter den Fenstern der Wohnung liegt. Einige Minuten später sah Martine Scotto nach, ob das Mädchen dort mit seinen Kameradinnen spielte. Sie war nicht da, und niemand hatte sie gesehen.
Die Tagesmutter begab sich unverzüglich auf die Suche nach Manon; sie ging die Treppen, die Kellerräume und dann den Parkplatz ab, der hundert Meter weiter oben, am Hang des Hügels liegt. Niemand. 17.30 Uhr. Martine Scotto verständigt die Gendarmerie.
Während es dunkel wird, beginnt eine groß angelegte Suchaktion. Zunächst durchkämmen die Gendarmen ein
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