Das Herz der Kriegerin
rote Blut eines Lebenden, und es dauerte nur wenige Augenblicke, bis sie sich wieder schloss. Mochte Hassan auch nur eine halbe Gabe, eine halbe Quelle haben, sie lebte noch immer in seiner Brust und sorgte dafür, dass der Körper erhalten blieb. Ein nutzloses Leben für Hassan, doch Malkuth schenkte es Hoffnung. Zumal nun den Derwischen die Schriftrolle in die Hände gefallen war.
Wäre Hassan nicht das zugestoßen, was ihm zugestoßen war, nie hätte Malkuth der alten Schrift geglaubt. Nie hätte er seine Derwische losgeschickt!
Doch Hassan hatte ihm gezeigt, dass es möglich war – dass Lamien über ihren Tod hinaus leben konnten, solange die Quelle in ihrer Brust intakt war. Wenn es den Derwischen Selim und Melis gelang, unter den toten Lamien eine zu finden, deren Quelle noch lebte, so konnte nicht nur sein Leben wieder hergestellt werden. Er würde mit dem gewonnenen Elixier Unsterbliche erschaffen können – und seine eigene Lamie. Eine, die williger war als Laurina. Eine, die ihm gehorchen und nie mit dem verräterischen Geist der Sephira infiziert werden könnte, weil er sie von der Bruderschaft fernhalten würde.
Als Malkuth die Hand auf die Stelle von Hassans Brust legte, unter der die Quelle pulsierte, klopfte es an die Tür.
»Komm rein«, brummte Malkuth, zog die Hand zurück und bedeckte den Körper mit dem Tuch.
Azhar trat ein, den er einst von seinem Volk raubte, um Rache an Sayd zu üben. Allmählich begann man ihm die über hundert Jahre, die er auf dem Buckel hatte, anzusehen. Natürlich sah er noch nicht aus wie ein Greis, doch sein Haar war von leuchtend weißen Strähnen durchzogen, ebenso wie sein Bart. Dem Aussehen nach hätte man ihn für einen Sechzigjährigen halten können; wenn es hochkam, blieben ihm noch dreißig oder vierzig Jahre bis zum Tod – falls Selim und Melis in der Gruft der Schlafenden nicht fündig wurden
So, wie Hassan der Quell von Malkuths Hoffnung geworden war, verkörperte Azhar sein Scheitern.
Wieder einmal wurde sich Malkuth dessen bewusst, dass das Elixier der Zwillinge das Altern nur verlangsamte und an echtes Lamienelixier bei Weitem nicht heranreichte. Allerdings hatte es gereicht, um König Edward unter seinen Einfluss zu zwingen. Die Sterblichen hatten dermaßen große Angst vor dem Tod, dass sie sogar für eine Zugabe von wenigen Jahren ihre Seele verkauften.
»Was gibt es, Azhar?«, fragte er, wobei ihm nicht entging, dass Azhar einen begehrlichen Blick auf den halb toten Körper warf. Dass er seit einiger Zeit nicht mehr in der Lage war, das Schwert so wie früher zu führen, bekümmerte den Wüstenkrieger sehr, sodass er Malkuth immer wieder bat, ihm doch die Quelle aus Hassans Körper zu übertragen. Malkuth verweigerte es ihm, aus gutem Grund, denn die Übertragung würde ihre Kraft erneut halbieren und Azhar überhaupt nichts bringen. Allerdings ließ er sich dazu hinreißen, Sayds Urenkel regelmäßig Blut aus Hassans Leib einzuflößen, damit dessen Wunden und Gebrechen heilen konnten und seine Lebensdauer sich verlängerte.
Dieses Blut schien Azhar zu wittern, doch dann riss er sich vom Anblick der Bahre los.
»Soeben hat einer unserer Spione eine wichtige Nachricht gebracht. Die Sephira … Sie sind hier in England.«
Das überraschte Malkuth fast gar nicht. Es herrschte Krieg zwischen England und Frankreich, natürlich würde Sayds Edelmut ihn dazu verleiten, diesen beenden zu wollen. Bei den Kreuzzügen war es nicht anders gewesen.
Allerdings wunderte Malkuth, dass er sich erst jetzt blicken ließ – und dann hier, obwohl die Kämpfe doch auf dem Festland tobten. Wollte er dem englischen König ans Leben?
»Wo sind sie gesichtet worden?«, fragte er schließlich, während er an Azhar vorbeischaute, um nicht länger dessen Verfall betrachten zu müssen.
»In London. Der Anführer und der Venezianer.«
Malkuth unterdrückte ein Grinsen. Da ihm Azhar noch in sehr jungen Jahren von seinem Vorfahr Sayd vorgeschwärmt hatte, hatte Malkuth tunlichst darauf verzichtet, seine ehemaligen Gefolgsmänner und jetzigen erbitterten Feinde beim Namen zu nennen. Sayd war nur »der Anführer«, Laurina »die Lamie«, Vincenzo »der Venezianer«, David »der Schmied« und so weiter.
»Und die anderen? Der Franzose und die Lamie?«
»Die hat unser Kundschafter nicht gesehen, allerdings hatte er auch nicht viel Zeit, denn die Sephira haben sich einen der Dschinn vorgenommen.«
Malkuths gesundes Auge begann vor Zorn rot zu glühen. »Sie haben
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