Das Herz der Nacht
Ewigkeit schien zu vergehen, ohne dass sich einer von ihnen rührte. Sie sahen einander nur an.
»Ich war wohl naiv zu glauben, unsere Freundschaft könnte diese Nacht unversehrt überdauern«, brach Therese die Stille. »Alles ist im Fluss, und auch unsere Freundschaft wird sich wandeln. Lassen wir uns überraschen, was das Leben morgen für uns bereithält.«
Sie schlang die Arme um seinen Leib und küsste ihn. András zog sie an sich. Es war eine andere Leidenschaft, die ihr nun entgegenbrandete, und sie begriff, dass er bisher nur ihr Verlangen gestillt hatte. War es da nicht gerecht, ihn nun seinen Frieden finden zu lassen?
Sie hörte ein Auflachen. »Therese, du bist die ungewöhnlichste Frau, die mir in zweihundert Jahren begegnet ist. Ich fühle mich geehrt.«
Sie ließ es zu, dass er ihren Kopf sanft zurückbog, bis sich ihr Hals ihm einladend darbot.
Nein, er hatte nicht gelogen, es schmerzte nicht, als seine Zähne durch ihre Haut glitten, und auch als er ihr Blut trank, war es eher wie ein Schwindel, der einen erfasst und die Welt in wirbelnde Nebelschwaden taucht. Sie roch seinen kalten Atem und ihr warmes Blut. Sie spürte seine Arme um sich und sein Verzücken, das sich mit jedem Schluck mehr zu einer Ekstase steigerte, derer Menschen nicht fähig schienen. Oder doch? Sie hatte vorhin in seinen Armen mehr als nur einen Hauch davon gespürt. Doch im Gegensatz zu ihr gönnte er sich keine Erlösung. Sie spürte, wie er sich verspannte und gegen sich selbst kämpfte, und sie begriff, dass seine Erlösung ihren Tod bedeuten würde. Dennoch verspürte sie keine Angst. Würde sein Verstand oder seine Natur siegen?
»Sein Verstand!«, beantwortete András ihren Gedanken, als er sich von ihr löste. »Ich hatte viel Zeit, mich in Beherrschung zu üben. Und nun schlaf, Therese, du bist schwach und bedarfst der Ruhe.«
So als könne sie gar nicht anders, als diesem Befehl zu gehorchen, sanken ihre Lider herab, und sie fiel in tiefen, traumlosen Schlaf.
21. Kapitel
Vasiles
András trug Therese in die Kutsche und brachte sie nach Wien zurück. Die Bewohner des Palais Kinsky lagen in tiefem Schlaf, als er die Fürstin in ihr Gemach trug. Er zog ihr das Seidennachtkleid an und deckte sie zu. Sie murmelte im Schlaf. Gut, dann schien er sie nicht zu sehr geschwächt zu haben. András sah zu der Tür hinüber, hinter der die Kammerfrau zu schlafen pflegte. Er vermisste ihre Atemzüge, die er bei seinen zahlreichen Besuchen stets vernommen hatte. Kein Schnarchen, kein Rascheln einer Matratze. Hatte sie gar auf ihre Herrin gewartet? András ließ den Blick schweifen und sah auch kurz in den Salon der Fürstin. Hier jedenfalls war die Kammerfrau nicht. András trat zu der schmalen Tür, hinter der sich Vesnas Lager befand, und öffnete sie einen Spalt. Nichts. Es war niemand da. Er betrachtete das Bett, das in dieser Nacht bereits benutzt worden sein musste. Decke und Kissen waren zerwühlt.
Ein Seufzen vom Bett der Fürstin lenkte ihn ab. Er eilte an ihr Lager.
»Therese, sind Sie wach?«
»Vielleicht, mein Freund, ich bin mir nicht sicher.« Sie griff an ihren Hals, wo seine Zähne zwei winzige Wunden zurückgelassen hatten. »Ich muss erst darüber nachdenken, was wirklich ist und was Fantasie. Es ist schwer zu begreifen.«
András küsste ihre Hand. »Ja, das ist es, darum schlafen Sie nun. Werden Sie gesund und kräftig!«
»Wann sehe ich Sie wieder?«
»Wenn die Sonne hinter dem Horizont verschwunden ist.«
Therese sah ihn forschend an. »Ja, natürlich, nur so ist es möglich. Seltsam, dass ich mir bisher keine Gedanken darüber gemacht habe. Und über so vieles andere auch nicht, das mir die Wahrheit hätte sagen können – ja, sie mir geradezu ins Gesicht schrie.«
»So sind die Menschen. Was nicht in ihr Bild der Welt zu gehören scheint, das ignorieren sie oder sie passen es sich an. Ich war auch einmal so, vor langer Zeit, als ich noch zu den Menschen gehörte.«
»Wann war das? Wie alt sind Sie?«
Er lächelte und strich ihr über die Wangen. »Alt, sehr alt, meine liebe, junge Freundin. Wer zählt noch die Jahre, wenn die ersten zweihundert erst einmal verstrichen sind?«
Therese richtete sich ein wenig auf. »Zweihundert Jahre? Das ist unglaublich! Ach, Sie müssen mir so viel erzählen. Ich brenne darauf, alles, was Sie in dieser Zeit erlebt haben, zu erfahren.« Sie gähnte herzhaft und sank in ihr Kissen zurück. »Aber nicht jetzt. Jetzt muss ich ein wenig schlafen und von den
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