Das Herz der Nacht
unbegreiflichen Wundern dieser Welt träumen.« Ihre Lider schlossen sich.
András beugte sich vor und küsste ihre Stirn. »Ja, tun Sie das, meine Teuerste. Wir haben ja noch so viel Zeit.«
Das waren seine letzten Worte. András verließ das Palais, während er diesen außergewöhnlichen Abend in seinen Gedanken nachklingen ließ. Ja, er war etwas ganz Besonderes, und dennoch fragte er sich später oft, ob das seine Nachlässigkeit entschuldigen oder auch nur erklären konnte. Warum hatte er sich nicht weiter für die verschwundene Kammerfrau interessiert? Warum war er nicht an ihr zerwühltes Lager getreten? Warum war er blind und taub wie ein Mensch durch das Palais getaumelt? Hätte er Vesnas Blut in ihrem Bett entdeckt oder die Witterung aufgenommen, die der Eindringling zurückgelassen hatte, vielleicht hätte das Schicksal einen anderen Weg eingeschlagen. So aber lehnte sich András versonnen in die Polster seiner Kutsche zurück und ließ sich von Goran nach Hause fahren, während der fremde Vampir vom Schottenkloster aus auf der anderen Seite des Platzes verborgen das Palais des Fürsten Kinsky beobachtete.
Die Kutsche hielt an, und der Ruck riss András aus seinen Gedanken. Er brachte ihm die unliebsamen Erinnerungen zurück, die er am Abend beim Verlassen seines Hauses zurückgelassen hatte. Was würde er vorfinden? Die Ahnung überfiel ihn so heftig, dass er die Zähne zusammenbiss. Es half nichts, nun musste er sich der Sache stellen und den Fehdehandschuh aufheben.
András riss den Wagenschlag auf, bevor Goran vom Kutschbock gesprungen war.
»Blut!« Er roch es, noch ehe er die Kutsche verließ, und auch die Witterung des fremden Vampirs drang ihm in die Nase.
Goran drängte sich mit grimmiger Miene an die Seite seines Herrn und zog seinen Dolch.
»Kümmere du dich zuerst um die Pferde. Ich gehe nachsehen, was unser ›Freund‹ uns dieses Mal hinterlassen hat.«
Alle Sinne wachsam folgte er der Blutspur ins Haus und die Treppe hinauf. Zumindest dachte er, er habe seine Sinne geschärft, doch nur auf die Fährte des Vampirs, nicht auf den Geruch des Opfers. Er hätte es bereits unten an der Tür erkennen müssen! So aber sandte er seine Witterung voraus, um zu ergründen, ob der Eindringling noch im Haus war und vielleicht irgendwo verborgen lauerte, um sich auf den Hausherrn zu stürzen.
András empfand keine Furcht. Dieses Gefühl kannte er nicht mehr. Es war nur Vorsicht, geboren aus dem Wissen, dass man niemals den Fehler begehen durfte, einen Vampir zu unterschätzen. Sein Gegner musste sich seiner Kräfte sehr sicher sein, so dreist wie er ihn herausforderte! War er nur verblendet, oder schlummerten in ihm Mächte, die András noch nicht erkannt hatte? Das herauszufinden war nun die dringlichste seiner Aufgaben.
Zumindest dachte er das in jenem Augenblick, da er mit wachsender Unruhe der Spur in den ersten Stock und dann durch die Räume bis in das herrschaftliche Gemach folgte. Er ließ sich Zeit und stellte erst sicher, dass der Eindringling sich nirgends verborgen halten konnte und ihm so nicht in den Rücken geriet. Langsam schritt er weiter. Nein, es wunderte ihn nicht, dass die Blutspur bis an die verborgene Tapetentür führte, die nun weit offen stand. András trat in die Öffnung und blieb dort stehen, um das Bild, das sich im bot, aufzunehmen.
Der andere Vampir war fort, doch er hatte ihm wieder einmal ein Geschenk hinterlassen. Und dieses Mal würden die Spuren nicht so leicht zu beseitigen sein. András hörte Goran hinter sich das Gemach betreten. Der Diener sog scharf die Luft ein, als er den ersten Blick in das kleine Gemach werfen konnte.
András’ Sarg war aufgeklappt, und in seinen Kissen lag die nun blutleere Leiche seines neusten Opfers. Doch wie hatte er sie zugerichtet! Mit einer Messerklinge und seinen Zähnen hatte er sich an der Frau vergangen und ihren schönen Körper zerstört. Das Blut, das er nicht getrunken hatte, war über den Boden und die Wände verspritzt. Nur ihr Gesicht hatte er unversehrt gelassen. Das Entsetzen stand noch in den weit aufgerissenen Augen. Nein, er hatte sie nicht mit seinem Blick betört, ehe er ihr Gewalt angetan.
Goran deutete mit einem fragenden Blick auf die Frau.
»Ob ich sie kenne? Ja, ich habe sie schon gesehen und noch häufiger gerochen. Ihr Name ist Vesna, und sie war die Kammerfrau von Fürstin Kinsky.«
In dem Augenblick, als er ihren Namen aussprach, wurde ihm das Ausmaß der Teufelei klar. Dazu brauchte es nicht
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