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Das Herz der Nacht

Das Herz der Nacht

Titel: Das Herz der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
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Nicht dass András auch nur das leiseste Geräusch vernommen hätte. Doch er konnte ihre Präsenz nicht mehr spüren, die seinem Körper und seinem Geist Schmerzen bereitete. András spannte die Muskeln an. Es musste ihm gelingen, aus diesem Sarg zu entkommen. Warum nur hatte er sich keine der einfachen Kisten genommen? Nein, es musste der stabilste unter den Särgen hier sein!
    Die Bretter würden standhalten. Ileana hatte den Deckel sorgfältig befestigt! Die Zeit lief ihm davon. Die Vampirin musste nur die Kirche umrunden und ins Michaelerhaus eindringen, und schon würde sie ihre Zähne in Karolines und Sophies zarte Haut schlagen können.
    Nein!
    Der aufsteigende Zorn verlieh ihm Kraft. Die Bretter knirschten.
    Moment. Der Sarg war zwar noch sehr stabil und kaum vom Verfall ergriffen, dennoch fühlte sich das Bodenbrett feucht an. Wasser war über die Füße ins Holz aufgestiegen. András warf sich zur Seite, dass der Sarg polternd umkippte. Dann verklemmte er sich zwischen Deckel und Boden und spannte erneut die Muskeln an. Er sog Luft in die kaum verheilte Lunge, bis sie erneut zu bersten drohte. Mit einem Knacken brach das Bodenbrett in der Mitte. Ein weiterer Stoß drückte die beiden Hälften auseinander. Und schon hatte sich András aus dem Sarg befreit. Er wandelte sich zur Fledermaus und flog durch die Sargrutsche aus der Gruft. Dieses Mal war keiner so zuvorkommend gewesen, ein Fenster für ihn zu öffnen. Nach einem raschen Blick, ob auch kein Passant ihn versehentlich zu Gesicht bekäme, wandelte sich András auf der Türschwelle zurück, drückte die Haustür auf und rannte in riesigen Sätzen die Treppe hoch.
    Die Wohnungstür war nur angelehnt, und Ileanas Geruch brandete ihm entgegen, dass er beinahe würgen musste. Wie hatte er sich der Illusion hingeben können, es wäre möglich, seine Schöpferin auf diese Weise zu verlassen? Man ging einfach fort, und sie würde irgendwann vergessen? Hatte er nicht genug Zeit gehabt, sie kennenzulernen und ihren Charakter zu studieren? Narr!
    András stürzte in die Wohnung. Er hielt für einen Moment inne, um sich zu orientieren. Es war kein Geräusch zu hören, doch vom Ende des Ganges, wo sich hinter dem Wohnzimmer des Hausherrn der Musiksalon anschloss, wehte ihm Blutgeruch entgegen. Mit wenigen langen Sätzen stand András in der Tür.
    Eine brennende Lampe stand auf dem Tisch. Die Flamme war das einzig Lebendige in diesem Zimmer. Der hoffnungsvolle, junge Pianist Carl Eduard Wallberg, dessen Beliebtheit in der Wiener Gesellschaft die vergangenen Monate stetig gestiegen war, lag mit aufgerissener Kehle über die Tastatur seines Flügels gebeugt. Ein letzter Rest von Blut breitete sich über den weißen und schwarzen Tasten aus.
    András verspürte einen Hauch von Bedauern. Das wertvolle Instrument, dem Karoline so wundervolle Musik entlockt hatte, war vermutlich rettungslos verloren.
    Der Vampir nahm sich nicht einmal die Zeit zu prüfen, ob Carl bereits tot war. Falls nicht, so würde er es bei dieser Verletzung in wenigen Minuten sein. András hastete in den Flur zurück und die Treppe zu den beiden Dachkammern hinauf, in denen Karoline und Sophie schliefen. Auch hier begleitete ihn Ileanas widerlich süßlicher Geruch, der wie zäher Honig an ihm festzukleben schien.
    Die Kammern waren leer. Natürlich fand er den Geruch der Wallbergs, der aus ihren Betten aufstieg, mehr jedoch nicht.
    Er verharrte an der Stelle, an der vor wenigen Augenblicken Ileana noch gestanden haben musste, vermutlich mit derselben Überlegung: Wo waren Karoline und Sophie zu dieser Stunde? Weit konnten sie nicht sein. Es war schon erstaunlich spät. – Waren seine Verletzungen daran schuld, oder hatte sich Ileana irgendeine Teufelei ausgedacht, dass er an diesem Abend erst so spät erwacht war?
    Wo also konnten Mutter und Tochter sein? Um diese Zeit sollten sie sich eigentlich in der Sicherheit ihrer Wohnung befinden.
    Sicherheit? Er schnaubte. Nein, keine Wohnung konnte ihnen vor dieser wahnsinnigen Kreatur Sicherheit bieten.
    András kehrte in den Musiksalon zurück und trat an Carls Seite. Das Blut hatte aufgehört zu fließen und begann an den Rändern bereits zu trocknen.
    Warum war Carl nicht auf einem Konzert? Hatte er ausgerechnet heute keinen Auftritt? Und was trug er für einen seltsamen Anzug?
    Draußen schlug die Glocke der Michaelerkirche Mitternacht. András fasste sich an die Stirn. Wie hatte er das vergessen können? Würde seine Nachlässigkeit Mutter und

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