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Das Herz der Nacht

Das Herz der Nacht

Titel: Das Herz der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
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Tochter das Leben kosten?
    Er öffnete das Fenster, und die Fledermaus stürzte sich hinaus. Dieses Mal flink und wendig, nicht wie in der vergangenen Nacht mit letzten Kräften. Es dauerte nur Wimpernschläge, bis er unten in der Gruft seine menschliche Gestalt wieder annehmen konnte. Gab es hier unter den toten spanischen Brüdern etwas, das ihm als Waffe dienen konnte? Ein verrostetes Schwert, das neben einem der Särge an der Wand lehnte, war alles, was er beim ersten Blick erfassen konnte. Besser als nichts.
    András huschte zur Treppe, die in die Vierung hinaufführte, und lauschte.
    Eine helle Kinderstimme sang eine Passage aus der Matthäus-Passion von Bach. Erstarrt blieb der Vampir mitten auf der Treppe stehen. Sophie! Dann war Karoline sicher bei ihr. Langsam ging er weiter. Stufe für Stufe kam er dem Kirchenschiff näher. Stufe für Stufe wurden die Mächte der Kirche stärker und kämpften gegen den unheiligen Eindringling. András ignorierte den Schmerz. Er war nicht schlimmer als zwei Kugeln in Bauch und Brust.
    Die Musik verklang, und für einen Augenblick herrschte Stille. András witterte in alle Richtungen. Sie befanden sich in einer der Kapellen im Chor, wo man den Toten aufgebahrt hatte. Ileanas Geruch konnte er nicht ausmachen. Entweder hatte sie die beiden noch nicht aufgespürt, oder ihr gelang es noch immer nicht, eine Kirche zu betreten. Das war durchaus wahrscheinlich. Ileana stammte noch aus einer Zeit, da die Macht der Kirche fast grenzenlos schien und die Menschen ihr Leben ganz in die Hand des Göttlichen legten. Heute war die Kirche schon lange nicht mehr die Autorität, die das Handeln der Menschen bestimmte – vor allem nicht in Wien! Auch wenn der Kaiser und einige seiner Berater das gerne gesehen hätten. Die Aufklärung und der Geist des Humanismus waren nicht spurlos an dieser Gesellschaft vorbeigegangen.
    »Wo ist Carl?«, hörte er Sophie fragen. »Hat er nicht versprochen, mit uns Totenwache zu halten?«
    »Er wollte das Stück noch ein wenig üben, das er morgen zur Totenmesse spielen wird.«
    »Das Requiem, das du komponiert hast?«, forschte Sophie.
    »Es ist kein richtiges Requiem«, widersprach Karoline. »Das konnte ich in der kurzen Zeit nicht schaffen. Es gab so viel anderes zu bedenken und zu erledigen. Es sind nur einige Passagen für die Messe.«
    »Aber du hast sie komponiert, also solltest du sie auch spielen«, beharrte Sophie.
    András verbarg das Schwert hinter einer Säule. Vielleicht war es ratsam, die Sache schonend zu beginnen. Er trat um die Ecke und konnte sehen, wie Karoline auf Sophies Bemerkung hin stumm den Kopf schüttelte.
    »Warum nicht? Wollen Sie Ihren toten Vater nicht mit einem letzten Gruß ehren?«
    Karoline stieß einen Ruf des Erschreckens aus. Sophie dagegen jauchzte.
    »András, Sie sind es. Dann habe ich also richtig gespürt. Ich wollte mir selbst wieder einmal nicht trauen.«
    Karoline fasste sich schnell und reichte ihm beide Hände zur Begrüßung. »Lieber Graf, es ist mir eine Freude, Sie hier zu sehen. Danke, dass Sie gekommen sind, meinem Vater die letzte Ehre zu erweisen.«
    András drückte ihr höflich sein Beileid aus und verzichtete auf den Hinweis, dass das ganz und gar nicht der Grund seines Besuchs in der Kirche war. Wieder einmal ließ sich Sophie nicht so leicht wie ihre Mutter täuschen.
    »Sind Sie wirklich deshalb gekommen?«, fragte sie und machte keinen Hehl aus ihrem Zweifel. »Sie haben Großvater nicht gemocht, nicht wahr? Zumindest war es Großvater nicht recht, dass Sie zu uns nach Hause kamen. Und Carl auch nicht.«
    »Sophie! Wie redest du denn daher? Vergiss nicht, wo wir uns befinden und weshalb wir hier sind!«
    Sophie sog hörbar die Luft ein. »Wie könnte ich das vergessen? Ich kann Großvaters Leiche riechen. Sein Körper verfällt, und der Gestank wird mit jeder Stunde stärker.«
    Karoline wirkte geschockt. »Sophie! Wenn man dich so reden hört, könnte man meinen, der Tod deines Großvaters sei dir gleichgültig. Es ist ein großer Verlust für uns alle, ihn so plötzlich zu verlieren!«
    Sophie dachte ernsthaft darüber nach. András ahnte, dass die Antwort ihrer Mutter nicht gefallen würde. Und auch er war gekommen, Karoline weiteren Schmerz zuzufügen. Er kam nicht drum herum, ihr zu sagen, was passiert war, und er musste Karoline und Sophie aus ihrem gewohnten Leben reißen, wollte er sie vor der Verdammnis schützen.
    »András, was ist passiert?«, wollte Sophie wissen, deren

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