Das Herz der Nacht
Menschen fliehen aus der Stadt. Mama hat die Pferde einspannen lassen, damit wir fahren können, sobald du wach bist.« Sie warf sich in seine Arme, die er tröstend um sie schloss.
»Wie schlimm steht es?«
Karoline hob die Schultern. »Die Berichte widersprechen sich. Senator Jenisch sprach davon, das Rathaus zu sprengen, um die Häuser am Jungfernstieg zu schützen. Aber das Feuer ist auf den neuen Wall übergesprungen und könnte uns von dort her erreichen. Viele verlassen ihre Häuser, und so wie es aussieht, stehen Banden von Plünderern bereit, die Gunst der Stunde zu nutzen.« Sie zog eine Grimasse.
»Also sollten wir das Haus nur dann schutzlos zurücklassen, wenn es sich nicht vermeiden lässt«, meinte András.
»Dennoch ist es gut, bereit zu sein. Packt alles in die Kutsche, was euch wichtig ist.« Ein Hauch von einem Lächeln huschte über sein Gesicht. »Nein, der Flügel wird nicht hineinpassen, aber viele andere Dinge. Lasst die Pferde vor dem Haus angebunden stehen, bis ich zurückkomme.«
»Wohin können wir gehen, wenn es zum Schlimmsten kommt?«, fragte Karoline.
»Ich habe ein Haus und einige Ländereien auf dem Höhenrücken über der Elbe bei Blankenese gekauft, Baurs Park. Ich wollte es euch eigentlich noch nicht sagen. Es sollte eine Überraschung werden. Gorans jüngerer Bruder Pavel, der aus Siebenbürgen gekommen ist, um die Stelle seines Bruders zu übernehmen, ist seit Wochen damit beschäftigt, es uns einzurichten.«
»Und wo willst du jetzt hin?«, rief Sophie.
»Mir ein Bild von der Lage verschaffen – und nein, ich werde dich nicht mitnehmen!«
Und schon war er verschwunden, ohne von Sophies Protest Notiz zu nehmen.
»Komm, lass uns die Taschen einladen, damit wir fertig sind, wenn András zurückkommt.«
Sophie setzte sich schmollend auf den Treppenabsatz. »Er hätte mich ruhig mitnehmen können. Wenn er dabei ist, kann mir ja gar nichts passieren.«
Karoline stieß einen ärgerlichen Laut aus. »Das ist nicht die rechte Zeit für ungezogenes Benehmen. Aber gut, dann bleibe hier sitzen, ich bringe die Taschen hinunter.«
Sophie antwortete nicht. Mit einem Schulterzucken hob Karoline die beiden Reisetaschen vom Boden und trug sie zur Kutsche. Die Pferde warteten geduldig, obwohl der Strom der Flüchtenden weiter anschwoll und die Stimmung ängstlicher Erregung auf Karoline übergriff. Sie ertappte sich, wie sie stehen blieb und sehnsuchtsvoll die Straße hinunterstarrte, ob András nicht dort am Ende auftauchen würde.
»Reiß dich zusammen!«, sagte sie streng zu sich selber, wandte sich um und trat wieder durch die Tür.
»Sophie?« Sie blieb abrupt stehen. »Ist etwas passiert?«
Das Mädchen kam die Treppe heruntergehastet, stolperte und fiel über die letzten Stufen, was ihr – soweit sich Karoline erinnern konnte – seit vielen Jahren nicht mehr passiert war. Es gelang ihr gerade noch, das Mädchen aufzufangen.
»Sophie, was ist denn los?«
Der Ausdruck des Entsetzens erschreckte Karoline. Das Mädchen öffnete den Mund, schien aber nicht fähig, auch nur ein Wort herauszubringen. Karoline fasste sie bei den Schultern und schüttelte sie.
»Nun beruhige dich und sage mir, was mit dir los ist!«
»Sie ist da«, hauchte Sophie.
»Was? Wer ist da?«, hakte Karoline nach.
»Ileana! Sie ist hier im Haus.«
»Was?« Eine heiße Welle lief durch ihren Körper gefolgt von Eiseskälte, die sie erschaudern ließ. Dann aber gewann Vernunft wieder die Oberhand. Sie nahm ihre Tochter behutsam in die Arme.
»Sophie, du bist durcheinander. Das Feuer und die Aufregung haben dich verwirrt. Du musst keine Angst haben. András kommt bald zurück, und dann wissen wir, ob wie hierbleiben oder aufs Land hinausfahren, bis der Spuk vorbei ist. Es gibt hier keine böse Vampirin. Du bildest dir da etwas ein. Wo sollte sie so plötzlich herkommen? Beruhige dich!«
Sophie befreite sich aus ihren Armen und trat einen Schritt zurück. Wenn Karolines Worte eines bewirkt hatten, dann dass die Panik von ihr abgefallen war. Sie schien nun völlig ruhig und setzte wieder diesen beherrschen Ausdruck auf, der sie viel älter aussehen ließ. Ihre Augen schienen die Mutter zu fixieren.
»Mama, haben mich meine Sinne je getäuscht? Haben wir nicht selbst gehört, dass das Morden in Hamburg begonnen hat? War nicht auch dein erster Gedanke Ileana? Leugne es nicht! Ich weiß nicht, wie sie es angestellt hat, doch es ist ihr gelungen, uns aufzuspüren, und sie wird uns töten, noch ehe
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