Das Herz der Nacht
die Türen der Zinshäuser verschlossen, im Sommer um zehn, im Winter um neun Uhr abends, so hatte es der Kaiser verfügt. Theateraufführungen begannen bereits um sieben, damit sie bis zehn Uhr beendet sein konnten. Nur einige Kaffeehäuser hatten bis Mitternacht geöffnet.
In Wien herrschte die bürgerliche Ordnung, die Franz, der Vater des jetzigen Kaisers, angestrebt hatte. Der Sohn, der jede eigene Initiative scheute und sich streng an die Gebote seines Vaters und der Minister hielt, die er von ihm geerbt hatte, beließ es dabei. Schlimm genug, dass es in den umliegenden Ländern seit einigen Jahren immer lauter rumorte. Der Aufstand in Polen, den der Zar blutig niederwerfen ließ, die Proteste der Seidenweber in Lyon, denen immer weitere Unruhen folgten, bis der Bürgerkönig der Franzosen seinen Thron verlassen musste. Der gärende Unmut in Prag und Budapest. Und dann auch noch Italien, dessen Glut nie vollständig erlosch. Nein, da hielt sich Kaiser Ferdinand lieber an das bewährte System seines Vaters, um in seiner Kaiserstadt Ruhe zu halten: ein züchtiges, wohlanständiges Leben, behütet von der Tag und Nacht patrouillierenden Militärpolizei und überwacht vom Heer der Spitzel, die auf den Lohnlisten der Zensurbehörde standen. Und diese Listen waren verdammt lang!
Dennoch hatte niemand etwas gesehen oder gehört. Es war nicht zu fassen! Der bedauernswerte Mann hatte seine Ehefrau mit durchgeschnittener Kehle an einem der Hintereingänge zu den kaiserlichen Stallungen gefunden, wo sie ihr Weg vom Theater nach Hause stets vorbeiführte. Vom Täter keine Spur. Nur das Messer hatte er dieses Mal am Ort der Tat zurückgelassen.
Normalerweise richtete Hofbauer in solchen Fällen sein Augenmerk zuerst auf den Ehemann, mögliche Verehrer oder nahe Verwandte. Dieses Mal war er sich jedoch sicher, dass der Mord mit den anderen Fällen zusammenhing.
Doch warum um alles in der Welt hatte niemand etwas gesehen oder gehört? Hofbauer wusste nicht mehr, wie viele Befragungen er in den vergangenen Wochen durchgeführt hatte. Nichts. Absolut nichts! Und dann auch noch die Vermisstenfälle, von denen er fürchtete, dass er sie irgendwann zu der Liste der Morde würde hinzufügen müssen. Wie konnte so etwas in einer Stadt wie Wien passieren?
Die beste Spur erschien ihm noch immer der düstere Graf aus Siebenbürgen, aber auch hier gab es nichts Konkretes, das weitere Maßnahmen gegen ihn gerechtfertigt hätte. Vier scheußliche Morde und dann noch die Vermissten. Hofbauer hatte sogar bei Polizeiminister Sedlnitzky vorgesprochen und ihn um Hilfe gebeten, doch so seltsam es klang, selbst sein Heer von Spitzeln fand keinen einzigen Hinweis auf die Morde oder die verschwundenen Personen. Keinen einzigen! Hofbauer fiel es schwer, das zu glauben.
Unvermittelt blieb er mitten im Raum stehen. Wenn er logisch vorging, dann war das nicht nur unwahrscheinlich, sondern schlichtweg unmöglich. Wenn die Morde von einer lebenden Person verübt worden waren. Jeder Mensch wohnte irgendwo, aß und trank, musste einkaufen oder in ein Wirtshaus zum Essen gehen, kannte andere Menschen und sprach mit ihnen.
Und in dieser Kaiserstadt, in der nicht einmal eine aufrührerische Rede in einem privaten Salon oder das Lesen eines zensierten Buches von den Naderern unbemerkt blieben, sollte bei all diesen Morden keine Spur hinterlassen worden sein? Das war nicht nur unlogisch, das war ganz und gar ausgeschlossen!
Entsprechend gab es nur einen Schluss, den der Kommissär ziehen konnte: Irgendjemand hielt diese Informationen vor der Polizei zurück. Der, der alles wusste und die Macht dazu hatte? Hofbauer wagte den Namen kaum zu denken: Polizeiminister Sedlnitzky!
Hofbauer fühlte einen Schwindel und musste sich an der Lehne seines Schreibtischstuhls festhalten. Seine Schultern sackten nach vorn. Er wusste, dass er nicht aufgeben würde, nicht aufgeben konnte. Er war wie einer dieser Hunde, die – hatten sie den Knochen erst einmal gepackt – ihn nicht wieder losließen. Ja, Hofbauer würde diesen Fall weiterverfolgen, mit seiner Erfahrung und jener Verbissenheit, die mit jedem Tag in ihm wuchs. Er musste diese Verbrechen klären, sein Seelenheil hing davon ab. Doch so sehr er sich davor fürchtete, den Fall niemals lösen zu können, so sehr fürchtete er sich auch davor, was er alles erfahren könnte, wenn er die Wahrheit ans Licht brachte.
Schritte auf dem Gang ließen ihn die Schultern straffen. Er drückte den Rücken durch und
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