Das Herz der Nacht
wappnete sich mit einem zuversichtlichen Gesichtsausdruck, als die Tür schon aufgerissen wurde und Schobermeier hereingepoltert kam.
»Kommissär, Sie hatten mit Ihrer Vermutung recht!«
Seine Wangen und seine Nase waren vor Kälte und Aufregung gerötet. Einige Schneeflocken schmolzen auf Schulter und Ärmel seines Mantels, als er sich in den Stuhl vor dem Schreibtisch warf.
»Wir haben alle acht Polizeibezirke der Vorstädte überprüft. Ich selbst habe mit den Bezirksdirektoren von Rossau, Spitalberg und Laimgrube gesprochen. Sie hatten mit Ihrer Vermutung recht! Es sind in den vergangenen Wochen noch mehr Personen spurlos verschwunden, doch die dortigen Beamten vermuteten keine Verbrechen hinter diesen Fällen und haben sie daher nicht weiterverfolgt.«
»Wie viele sind es?«, fragte der Polizeikommissär mit belegter Stimme.
»Sechs, davon vier Frauen.« Schobermeier zog einen Stapel zerknitterte Papiere aus der Tasche, glättete sie ein wenig und legte sie seinem Vorgesetzten auf den Tisch.
»Sechs Fälle? Und keiner kam uns bisher zu Ohren?«
Schobermeier hob die Schultern. »Es erschien denen halt nicht so wichtig. Und eigentlich sind es nur fünf. Einer war nämlich ein Mann in Sechshaus, den seine Frau als abgängig gemeldet hat. Er war abends gern im Wirtshaus und hat wohl einen über den Durst getrunken. Jedenfalls muss er in die Wien gefallen und dort ertrunken sein.«
»Ertrunken oder von dem zum Himmel stinkenden Dreckwasser vergiftet worden«, murmelte der Kommissär und fragte dann laut: »Ertrunken? Nicht die Kehle durchgeschnitten oder erstochen?«
»Der Wundarzt hat nichts vermerkt, und der Mann wurde bereits begraben.«
»Hm, dann lassen wir ihn einmal außer Acht. Bleiben immer noch fünf Fälle.«
»Ich habe Ihnen alles aufgeschrieben, was ich über die Personen in Erfahrung bringen konnte.« Mit stolzer Miene wies Schobermeier auf die zerknitterten Papiere.
»Haben Sie selbst mit den Familien gesprochen?«
Schobermeier wirkte entsetzt. »Wann hätte ich das denn tun sollen? Und warum? Ich habe einen der Polizeidiener die Notizen der Beamten abschreiben lassen, die die jeweiligen Fälle aufgenommen haben.«
»Und, bringen uns diese Aufzeichnungen irgendwie weiter?«
Schobermeier schüttelte den Kopf. »Nur so allgemeiner Kram. Die Mütter behaupten stets, ihre Töchter seien zu anständig, um mit einem Verehrer durchzubrennen, die Väter schimpfen, fluchen und drohen, doch zumindest fällt da ab und zu der Name eines Bekannten, mit dem das Mädchen ins Tanzlokal ging oder so. Bei den Hausmädchen fällt die Verteidigung ihrer Ehre meist nicht so überzeugend aus. Zwei haben keine Familie in Wien. Eine der Frauen war schon über dreißig, aber noch ledig. Der verschwundene Mann ist Selcher im Alsergrund und lieferte sein Fleisch vor allem ins Spital. Er hinterlässt eine Frau und drei kleine Kinder.«
»Wie Sie schon sagen, nur allgemeiner Kram. Nichts, mit dem wir etwas anfangen könnten. Daher werden wir zu diesen Fällen selbst Befragungen vornehmen.«
»Zu allen?« Schobermeier sah ihn entsetzt an.
Der Kommissär nahm seinen Mantel vom Haken und setzte sich den Hut auf. »Ja, zu allen, oder gibt es einen unter ihnen, den Sie keiner Untersuchung durch die Kriminalpolizei für würdig erachten wollten?«
Der Kommissär wusste, dass sein Untergebener es nicht mochte, wenn er so vornehm wie ein Mann von Adel sprach, doch seine Einfältigkeit reizte Hofbauer. Schobermeier antwortete nicht, sondern schnaubte nur abfällig durch die Nase.
»Wir beginnen mit der Spur, die noch frisch ist.« Der Kommissär nahm das Blatt, dessen Datum erst zwei Tage zurücklag.
»Anna Holzer, dreiundzwanzig Jahre, ledig, wohnhaft in der Spittelau bei ihren Eltern. Vater ist Tischler, Mutter ist Zugehfrau im Haus des Magistrats Schörer im Alsergrund. Im Haus leben noch vier jüngere Kinder. Außerdem haben sie einen Bettgeher, der als Gehilfe für den Vater arbeitet. Anna ist seit der Eröffnung vor einem Jahr in der Kerzenfabrik der Seifensiedergesellschaft im Schottenfeld angestellt. Sie war auf dem Heimweg von ihrem Arbeitsplatz, als sie verschwand.« Hofbauer wandte sich zum Gehen. »Gut, fangen wir genau da mit unseren Fragen an.«
Schobermeier eilte ihm nach. »In der Kerzenfabrik? Die im ehemaligen Apollosaal?«
»Ja, in der Kerzenfabrik. Die Frauen reden während der Arbeit. Vielleicht weiß eine etwas, das der Polizei bislang nicht bekannt ist.«
Den ganzen Weg bis zum Schottenfeld
Weitere Kostenlose Bücher