Das Herz der Nacht
kann.«
Sophie wandte ihren Blick in Richtung des Grafen. »Er hat es nicht gelernt? Wie ist so etwas möglich?«
»Es hat nichts damit zu tun, dass er es nicht gelernt hat.«
»Dann ist es wie mit meinen Augen, dass einfach ein Teil fehlt, über den alle andere Menschen verfügen, und er dafür andere Sinne bekommen hat?«
András betrachtete das Mädchen mit zunehmendem Interesse. So viel Weisheit in einem kleinen Menschenkind!
Karoline packte inzwischen von ihr beschriebene Notenblätter aus und verteilte sie auf dem Ständer. »Ich habe gestern einige kleine Stücke komponiert, die Sie zuerst in einzelnen Stimmen üben und die wir später zu einem schönen Musikstück zusammensetzen können. Ich kann zu Anfang die anderen Stimmen übernehmen, wenn Sie es wünschen, damit Sie hören, wie es später einmal klingen soll.«
So begann der Unterricht. Während András spielte und Karoline ihn zuweilen korrigierte, saß Sophie still auf ihrem Platz, den Kopf ein wenig schräg gelegt, die Miene ernst. Die Stimmung dieses ungewöhnlichen Kindes war nur schwer zu durchschauen. Doch widmete sich András nun ganz dem Flügel und der Musik, die er ihm zu entlocken suchte. Es war nicht leicht, die Ungeduld zu unterdrücken, die in ihm loderte. Das Verlangen nach dem ganz großen Klang!
In Karolines Lächeln lag Verständnis. »Ich weiß, wie verzehrend diese Glut ist, aber ich verspreche Ihnen, Sie werden früher ans Ziel kommen als jeder andere, den ich bisher kennengelernt habe.«
Sie spielten die Themen aus Karolines Feder noch zweimal mit verteilten Rollen, mal András die Melodie, mal die Bassstimme. Dann unterbrach Goran die Stunde und schob einen Servierwagen in den Salon, der mit Kaffee, heißer Schokolade, einer Karaffe Wein, Limonade, verschiedenen Gebäckstücken, noch warm duftenden Kipferln, Konfekt und kandierten Früchten überladen war.
Während sich Karoline höflich bedankte, jubelte Sophie bei dem leckeren Duft, der ihr in die Nase stieg, und strahlte über das ganze Gesicht.
»Danke, Goran!«, rief sie überschwänglich, als er ihr vorsichtig die Tasse reichte. »Danke, Graf Báthory«, fügte sie hastig hinzu. »Hm, die Kipferl sind ganz frisch. Lecker. Hast du sie eben für uns gebacken, Goran? So ist doch dein Name?«
»Sophie!«
András sah die Mutter ernst an. »Lassen Sie sie doch. Empfinden Sie nicht Erleichterung, dass sie sich einmal wie ein Kind verhält? Die spontane Freude, die ohne darüber nachzudenken ihren Ausdruck sucht?«
»Ich weiß nicht. Es schickt sich einfach nicht. Jedes Mädchen muss das früh lernen«, antwortete Karoline ein wenig verunsichert. »Es wird nicht gern gesehen, wenn man seinen Gefühlen freien Lauf lässt.«
András nickte. »Das ist wahr, und je gehobener die Gesellschaft, desto weniger echt sind die Gefühle, die sie zeigen, falls sie überhaupt so etwas in der Art zulassen und nicht eine Miene aufsetzen, die einer Maske gleicht. Da lobe ich mir die spontane Gefühlsregung des Volkes, das auch mal flucht und schimpft, sich streitet und tränenreich wieder verträgt. Und das in einer Fröhlichkeit zu feiern weiß, dass die Begeisterung anstecken muss. Was ist ein Hofball oder ein Ball der Aristokratie im Belvedere gegen den Fiakerball oder den Ball der Wäschermädchen!«
»Von diesem Fest habe ich schon viel gehört«, rief Karoline lebhaft, und ihre Wangen färbten sich rosa. András reichte ihr eine Tasse Kaffee und einige Stück Konfekt, während Sophie bereits ihre Schokolade geleert und zwei Kipferl verdrückt hatte.
»Ich sehe die Wäscherinnen samstags immer mit ihren bunten Kopftüchern, die Kleider blitzsauber und gestärkt bis hinunter zu den geschnürten Stiefeln, wenn sie in ihren Butten die gewaschene Wäsche austragen«, fuhr Karoline nach einem Schluck des dunklen, starken Gebräus fort. »Es sind viele Hübsche darunter, die das Haupt hoch erhoben tragen. Ich glaube, es war Johann Strauss, der sagte, die Wäschemädel seien die besten Walzertänzerinnen von ganz Wien. Ich weiß allerdings nicht, ob da etwas dran ist. Ich selbst war natürlich nie auf solch einem Ball.«
»Ich hatte bereits das Vergnügen – und ich sage Ihnen, ich war nicht der einzige Graf, Baron oder Freiherr, der sich unter den Bürgern auf diesem Fest tummelte. Ganz in Ehren, versteht sich, zumindest soweit ich für mich sprechen kann. Die Wäschemädel werden ihrer Grazie wegen verehrt und hofiert. Das bleibt nicht ohne Folgen. Einige Herren haben sich
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