Das Herz der Nacht
Blick über die Notenlinien schweifen, schloss für einige Momente die Augen und sah sie dann noch einmal an, bis er sicher war, jeden einzelnen Ton verinnerlicht zu haben. András holte tief Luft und begann die Übung von neuem. Auch dieses Mal kam er nicht weit. Goran trat in den Salon und blieb einige Schritte vor dem Flügel stehen. András ließ sie Hände sinken. Er unterdrückte den aufsteigenden Ärger, denn er wusste, dass Goran ihn nur störte, wenn es nicht zu vermeiden war.
»Was gibt es? Besuch? Doch nicht wieder die Beamten der Kriminalpolizei?«
Goran schüttelte den Kopf und machte eine Geste, die András sich von seinem Klavierhocker erheben ließ.
»Eine Dame, die mich zu sprechen wünscht?« Für einen Moment war er verwirrt, dann lächelte er. »Das kann nur unsere unverbesserliche Fürstin Kinsky sein. Hast du den Wagen gesehen?«
Goran verneinte, und das bezog sich nicht auf den Wagen.
»Nicht die Fürstin?«
András folgte seinem Diener die Treppe hinunter. »Und sie sind zu zweit? Das wird ja immer geheimnisvoller.«
Als der Diener ihm zu verstehen gab, dass die zweite Person ein Kind sei, begann András zu ahnen, wer ihn im Vestibül erwartete. Der Ärger über die Störung war verflogen. Verwundert stellte er fest, wie hoffnungsvolle Freude in ihm aufstieg. Das waren keine Gefühle, die er häufig empfand! Er verbeugte sich elegant vor seiner Besucherin und küsste ihr die Hand.
»Welch freudige Überraschung, Fräulein Wallberg. Ich begrüße Sie herzlich, und auch dich, Sophie. Was verschafft mir die unerwartete Ehre Ihres Besuchs?«
Karoline sah verlegen zu Boden. »Sie sind sehr höflich, Graf Báthory, und das, obwohl mein Bruder sich so schrecklich schlecht Ihnen gegenüber benommen hat. Er hatte kein Recht dazu, dennoch will ich nicht zu hart über ihn urteilen. Er ist in einer schwierigen Lage. Der Vater liegt noch immer im Spital, und so fühlt er sich für mich und Sophie verantwortlich. Eine Situation, die ihn in seiner Jugend und mit der vielen Arbeit überfordert, auch wenn er das natürlich nicht zugeben würde.« Sie schwieg und hob vorsichtig den Blick.
»Falls Sie gekommen sind, um Ihren Bruder vor meinem Zorn zu schützen, so hätten Sie sich den Weg sparen können, Fräulein Wallberg. Ich zürne ihm nicht, und ich habe auch nicht vor, ihn meinen Unmut spüren zu lassen. Es ist nur sehr schade, dass wir die zarten Knospen des Erfolges, die sich bereits zeigten, nicht zusammen zum Erblühen bringen werden.«
»Das haben Sie sehr schön gesagt.« Karoline lächelte ihn ein wenig scheu an. »Und es wäre eine Sünde, wenn die Knospe nun verdorrte, ohne jemals die Möglichkeit gehabt zu haben, sich in ihrer vollen Schönheit der Sonne entgegenzurecken.«
András verbeugte sich noch einmal. »Und Sie haben das Bild ganz wundervoll aufgenommen. Doch sagen Sie, wie soll es nun mit unserem gärtnerischen Ehrgeiz weitergehen?«
Er führte Mutter und Tochter die Treppe hinauf bis in den kleineren, jedoch nicht minder prächtigen Salon in der Belletage, wo er ihnen Platz auf den eleganten Louis- XVI .-Stühlen anbot. Sophie rutschte ohne Scheu auf den Sessel, während Karoline sich auf der Kante niederließ.
»Ich habe über Ihre Worte nachgedacht«, nahm sie die in der Halle unterbrochene Unterhaltung wieder auf. »Und ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass viel Wahrheit in ihnen liegt. Ich habe mich – nein, uns beide – lange genug versteckt und das Leben draußen vorbeiziehen lassen. Nun wird es Zeit, mutig in die Welt hinauszugehen. Wir beide, Sophie und ich, wir haben genug gebüßt!«
András nahm ihre beiden Hände und küsste sie. »Willkommen im Leben, Fräulein Wallberg. Ich wünsche Ihnen und Sophie alles Gute. Dann waren meine Worte also nicht umsonst. Darf ich Sie fragen, welche Rolle Sie mir in diesem neuen Leben zugedacht haben – falls ich darin vorkomme?«
»Wenn Sie es wünschen? Ihr Talent, verehrter Graf, ist ein Geschenk für Sie und für mich. Ich kann kaum mehr an etwas anderes denken als an die nächste Unterrichtsstunde mit Ihnen. Und wenn Sie es nicht für zudringlich hielten, dann würde ich vorschlagen, Sie hier an Ihrem eigenen Flügel zu unterrichten.«
András hob erstaunt die Brauen. »Sie wollen hierher kommen und mir Unterricht erteilen?«
»Ja, warum nicht?«, gab sie ein wenig trotzig zurück.
»Ich kann erst nach Einbruch der Dunkelheit!«
»Das sagten Sie mir bereits.« Sie starrten einander einige Augenblicke stumm
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