Das Herz der Savanne - Afrika-Roman
einfordern können. Schließlich lebt sie seit zwanzig Jahren auf der Farm. Sie hat sicher gewusst, dass ihre Tochter schwanger ist. Und bestimmt hat sie auch gehört, dass im Herrenhaus ein Säugling lebt. Thala ist doch nicht dumm.«
Horatio erwiderte nichts, sondern schritt in Richtung des Pontokdorfs.
Ruth sah ihm kopfschüttelnd und mit bangem Herzen nach. »Was geschieht, wenn Thala Sally wirklich einfordert?«, rief sie ihm ängstlich nach.
»Das wird nicht geschehen.« Horatio winkte Ruth, ihm zu folgen, und schlug den Weg zum Kameldornhain ein.
Sie seufzte aus tiefstem Herzen und lief Horatio hinterher.
Im Dorf der Nama herrschte eine ungewöhnliche Stille. Auf den Feuerstellen vor den Häusern waren die Feuer erloschen, die leeren Kessel schwankten leise im Wind. Anders als sonst spielten die Kinder nicht draußen, Frauen riefen sich keine Scherzworte zu, niemand sang Lieder. Es war, als läge eine dunkle Wolke über den Hütten.
Behutsam klopfte Ruth an das Häuschen von Thala und Santo. Eine schwarze Frau öffnete, die Ruth noch nie zuvor gesehen hatte.
»Ich möchte zu Thala«, sagte Ruth.
Die schwarze Frau schüttelte den Kopf. »Sie ist krank. Ihr ist das Herz gebrochen. Sie kann mit niemandem reden.«
Ruth nickte. »Ich wollte nicht reden, ich wollte sie fragen, ob sie Hilfe braucht.«
Die Schwarze schüttelte den Kopf. »Einer Frau, der man das Kind genommen hat, ist nicht zu helfen.«
»Aber sie hat ein Enkelkind. Es lebt bei uns. Vielleicht möchte sie es sehen.«
Die Schwarze kniff die Augen zusammen. »Thala hat ihre Tochter verloren. Jemand hat Ama etwas angetan, das Schlimmste angetan. Thala hat kein Enkelkind, wird niemals ein Enkelkind haben. Nicht jetzt und auch nicht später.«
»Aber das Baby, die kleine Sally, sie kann doch nichts dafür«, versuchte Ruth es weiter.
»Thala kennt keine kleine Sally. Niemand hier kennt eine Sally.«
Die Schwarze wollte die Tür zuschlagen, doch Horatio hatte schon seinen Fuß dazwischengestellt. »Hören Sie, wir sind auch gekommen, um zu erfahren, ob es von Santo etwas Neues gibt. Vielleicht hat mittlerweile jemand von ihm gehört.«
Die Schwarze betrachtete Horatio von oben bis unten mit zusammengekniffenen Augen. Dann schüttelte sie energisch den Kopf. »Hier kennt auch niemand einen Santo. Wir haben nichts gehört und nichts gesehen.« Sie deutete auf Horatio. »Du bist ein Nama wie wir. Du weißt genau, dass es hier keine Sally und keinen Santo gibt. Nur noch eine Frau in tiefem Schmerz, der das Herz gebrochen wurde. Komm nicht wieder, wenn du Menschen suchst, die hier nicht sein können. Komm überhaupt erst wieder, wenn du dich an deine Wurzeln erinnerst.« Sie schlug die Tür zu.
»Was war das? Was soll das heißen?«, fragte Ruth entgeistert. »Wie kann sie so mit dir reden?«
Horatio sah sie an, und es schien Ruth, als sei er traurig. Dann antwortete er: »Es hat keinen Sinn, Ruth. Wenn sie sagen, dass es hier weder einen Santo noch eine Sally gab, dann ist das so.«
»Und das mit den Wurzeln, was meinte sie damit?«
Horatio seufzte aus tiefstem Herzen. »Sie wirft mir vor, meine Rasse verraten zu haben. Sie hält mich für einen, der bei den Weißen lieb Kind gemacht hat. Sie traut mir nicht.« Seine Stimme war mit einem Mal so leise, dass Ruth sich anstrengen musste, ihn zu verstehen. »Weniger sogar noch als dir. In den Augen der Schwarzen ist jeder Bruder, der bei einer Weißen lebt, ein Verräter.«
Ruth erstarrte, sah ihren Liebsten an. Nie hatte sie bedacht, dass er etwas verloren haben könnte, seit er auf Salden’s Hill lebte. Ein Schwarzer unter Weißen. Sie hatte ihn nie gefragt, was seine Familie, seine Freunde dazu sagten. Sie öffnete den Mund, doch Horatio legte ihr seine warme Hand über die Lippen. »Scht«, machte er. »Sag nichts.«
Zwölftes Kapitel
H oratio war auf dem Weg nach Swakopmund, fuhr die B6 von Gobabis nach Windhoek und dachte über das Gespräch mit Sergeant Lang nach.
Gleich heute Morgen, nachdem er mit Robert Outwater zusammen die Milchprodukte ordentlich verstaut hatte, war er auf die Wache nach Gobabis gefahren, um mit Lang noch einmal über das Schicksal der kleinen Sally zu sprechen. Horatio hatte es für Ruth getan, denn er wollte, dass sie sich sicher fühlte, ihre ganze Liebe ungehemmt auf das winzige Menschlein schütten konnte, ohne Angst haben zu müssen, Sally eines baldigen Tages zu verlieren.
»Wie sieht es mit einer Pflegschaft aus?«, hatte Horatio den Polizisten
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