Das Herz der Savanne - Afrika-Roman
Selbst sein Geruch war verflogen. Spurlos verschwunden. Spurlos ...
Sie sann über das Wort nach und schüttelte dann heftig den Kopf. Nein, Horatio war nicht spurlos verschwunden! In ihrem Herzen war er da, so lebendig wie eh und je.
Ruth glättete das Kissen, strich zärtlich mit der Hand darüber und sah unter das Bett. Da stand ein Schuhkarton, den sie nie zuvor gesehen hatte, ein einfacher Schuhkarton aus brauner Pappe mit einem einfachen Deckel. Sie musste das Lineal aus dem Schreibtisch holen, um den Karton hervorzufischen. Als er vor ihr stand, fühlte Ruth sich, als hätte sie einen Schatz gehoben. Eine Schatzkiste, die ihr womöglich das Wesen des Mannes enthüllte, den sie liebte. Vorsichtig hob sie den Deckel, legte ihn behutsam zur Seite.
Obenauf lag ein Buch. Es war zerlesen, die Ränder zerfranst, mit Fettflecken bedeckt, von Feuchtigkeit gewellt. Ein Buch mit einem Leben, ein geliebtes Buch. Zaghaft nahm sie es in die Hand, schlug die erste Seite auf. »Uncle Tom’s Cabin« , stand dort, »von Harriet Beecher-Stowe«. Onkel Toms Hütte. Ruth kannte das Buch. Ihr Vater, der rothaarige Ire, hatte es ihr geschenkt. Es handelte von einem schwarzen Sklaven in Amerika, der von seinem Herrn zu Tode misshandelt wurde. Und es handelte von Eliza, einer schwarzen Sklavin, die Ruth immer ein wenig an Mama Elo und Mama Isa erinnert hatte. In Südwest gab es offiziell keine Sklaven. Und natürlich gab es sie doch, nur, dass sie hier anders hießen, nämlich einfach »Schwarze« oder »Kaffern«.
Horatio musste dieses Buch oft gelesen haben. Ruth strich sanft über den Einband und nahm sich vor, Sally die Geschichte von Onkel Tom vorzulesen, sobald sie alt genug dafür war.
Unter dem Buch fand sie eine Fotografie. Es zeigte vier schwarze Jungen. Drei davon waren kräftige Burschen, die mit weißen Zähnen in die Kamera lachten und einander die Arme um die Schultern gelegt hatten. Und neben ihnen, fast an den Rand des Fotos gedrückt, stand ein vierter schwarzer Junge, der einen Kopf kleiner war, schmal und kränklich wirkte und mit der Riesenbrille auf seiner Nase wie ein Insekt aussah. Er lächelte als Einziger nicht, sondern hatte nur den Mund ein wenig verzogen, sodass Ruth nicht erkennen konnte, ob das die Andeutung eines Lächelns oder ein Ausdruck von Schmerz war. Obwohl der Junge dicht neben den anderen drei stand, wirkte er weit entfernt von ihnen. Unendlich weit entfernt. Die anderen, das waren offensichtlich Brüder, die gehörten zusammen, traten füreinander ein. Aber der Kleine mit der Brille war allein. Horatio. Ruth hatte ihn sofort erkannt. Sie drehte das Foto um und las, was dort geschrieben stand: »Die Mwasube-Brüder Jonker, Kido, Simon und Horatio.«
Das kleine Wörtchen »und«, diese drei mickrigen Buchstaben sagten so viel aus. Ruth wusste, dass Jonker, Kido und Simon die Vornamen wichtiger Nama-Führer waren. Und sie hatte in Roses Vornamenbuch nachgeschlagen, was Horatio bedeutete. Ein römischer Dichter hatte so geheißen. Einer, der schon zweitausend Jahre tot war und von dem wohl nie ein Schwarzer in Südwest je gehört hatte. Wie war Horatio zu seinem Namen gekommen? Warum hieß er nicht auch nach einem berühmten Nama?
Es war nicht zu übersehen, dass das Kind auf diesem Foto einsam war. Einsam und verlassen. Rasch legte Ruth das Foto zur Seite, griff nach dem nächsten Stück aus dem Schuhkarton, einem weiteren Foto, auf dem eine ärmliche Hütte, viel, viel ärmlicher als die Pontoks der Farmarbeiter, abgebildet war.
Vor dieser Hütte saß eine schwarze Frau in einem Stuhl. Sie hatte sicher ihr bestes Kleid an, denn sie saß ganz steif da, als wollte sie jedes Knittern vermeiden. Der weiße Kragen schloss sich eng um ihren schwarzen Hals; das graue, stark gekrauste Haar wurde an den Seiten von Kämmen gehalten. Die Hände der Frau lagen klein und dunkel in ihrem Schoß und hielten sich aneinander fest, doch Ruth konnte die geschwollenen Knöchel, die Gichtknoten, gut erkennen.
Ein Lächeln lag auf dem Gesicht der Schwarzen. Es wirkte so unentschieden wie das des kleinen Horatio auf dem anderen Foto. Sie hatte die Augen leicht zusammengekniffen, als ob die Sonne sie blendete oder als ob sie sich nicht sicher gewesen wäre, dass aus dem Fotoapparat am Ende womöglich doch Flammen schossen.
Die Frau schien nicht viel älter als Rose zu sein, und doch wirkte es, als lägen zwischen den beiden Frauen Jahrzehnte und Kontinente. Roses glattes, cremesattes Gesicht, die gefärbten
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