Das Herz der Savanne - Afrika-Roman
Haare, der klare, offene, selbstbewusste Blick. Nichts davon war im Gesicht der anderen Frau zu erkennen, das von Arbeit und Kummer gezeichnet war. Sie hatte nie Zeit für Pflege gehabt, nie Geld für eine Creme, keinen Anlass für gezupfte Augenbrauen und keine stolzen Erinnerungen, die die Augen glänzen ließen und das Kinn anhoben.
Der Mann auf dem Foto war groß und hager, auch wenn seine Schultern wie unter einer großen Last gebeugt waren. Seine Lippen wirkten trotz ihrer Fülle wie schmale Striche, die in der oberen Zahnreihe zwei Lücken entblößten. Die Brauen lagen dicht über den Augen und verdeckten den Blick, als hätte der Mann nie gewagt, jemanden offen anzusehen; zugleich hatten seine Augen etwas Herrisches an sich, etwas Zwingendes. Er hatte die Schultern weit zurückgenommen und die schmale Brust gebläht. Sein weißes Hemd spannte ein wenig, und die Ärmel der schwarzen Anzugjacke reichten gerade bis zu den Handgelenken.
Warum, dachte Ruth, hatten sie sich so fotografieren lassen? Warum und für wen?
Ohne Horatios Eltern je kennengelernt zu haben, wusste sie, dass dieses Bild log. Nein, so waren sie nicht, so konnten sie nicht sein. So unsicher, so ... so, Ruth fand kein Wort dafür, so kindlich und uralt zugleich. Wesen, die etwas taten, das ihnen nicht entsprach.
Von ihren Eltern gab es kein Foto, aber sie hatte schon unzählige andere Familienfotos gesehen: strahlende Gesichter, die Mutter immer liebevoll, der Vater stets streng. Eltern. Dazwischen, daneben, davor die Kinder in ihren besten Kleidern. Fotos, die man an Weihnachten verschicken konnte, die sich für die Kommode eigneten, die in silbernen Rahmen auf Kaminsimsen standen. Dieses Foto hier war anders. Ruth drehte es um. »Die Mwasubes an ihrer Silberhochzeit, aufgenommen von Pfarrer Julius Krieger.«
Aha, dachte Ruth. Der weiße Pfarrer hatte sicher gemeint, dass ein Foto zu einem solchen Anlass dazugehörte. Und die Eltern hatten sich fotografieren lassen, um dem Pfarrer nicht zu widersprechen.
Ruth legte das Foto zur Seite und nahm einen kleinen Packen, nur ein paar Blätter mit Kinderzeichnungen, aus dem Karton.
Auf dem ersten Bild war ein kleiner Junge zu sehen, dessen Brille größer war als sein Gesicht. Etwas entfernt von ihm stand eine Ziege, die ein Buch fraß. War das Horatio?
Ruth hielt sich das Blatt dicht vor die Augen, doch auf dem gemalten Buch stand kein Titel. Sie war sich trotzdem sicher, dass es sich um Uncle Tom’s Cabin handelte. Sie lachte auf. Wenn Horatio las, saß er immer an seinem Schreibtisch, als wäre Lesen Arbeit. Auch Romane las er so, während sie im Sessel fläzte, die Beine über der Lehne baumeln ließ und das Buch auf dem Bauch balancierte. Bei ihr war Lesen Entspannung, für Horatio Arbeit.
Merkwürdig, dachte sie. Dann fiel ihr ein, dass Horatio immer gleich aus dieser Arbeit aufschreckte, wenn jemand das Zimmer betrat. »Kann ich etwas tun?«, fragte er stets, als wäre das Lesen etwas, das ihm nicht zustand. »Kann ich helfen?«
Ruth brummte in solchen Fällen meist: »Du störst gerade«, oder: »Ich kann jetzt nicht«, Horatio aber ließ sein Buch ertappt sinken, als wäre Lesen etwas, das ein Schwarzer nicht tun sollte.
Über der zweiten Zeichnung standen in ungelenker Schrift die Worte »Wenn ich einmal groß bin«. Darunter war eine Familie gezeichnet. Ein Mann mit Brille, daneben eine schwarze Frau und daneben fünf kleine schwarze Kinder. Im Hintergrund stand eine Hütte, die der seiner Familie auffallend glich.
Von so einer Zukunft hatte er geträumt? Von einer schwarzen Familie vor einer kleinen Hütte? Was hatte er stattdessen bekommen? Eine weiße, reiche Frau und ein Mischlingskind.
Ruth ließ die Zeichnung sinken. Tränen traten ihr in die Augen. Wieder erkannte sie, dass ihre Liebe Horatio Verzicht abverlangte. Verzicht seiner schwarze Identität. Geld bedeutete ihm nicht viel, Reichtum gar nichts. Aber seine Hautfarbe. Hatte sie ihm die genommen? Ja, gab Ruth vor sich selber zu. Sie hatte Horatio in ihre weiße Welt mit den weißen Regeln, mit den Messerbänkchen und Damastservietten gezogen und erwartet, dass er alles Schwarze hinter sich ließ. Sie hatte ihn im Grunde immer weiß haben wollen. Er sollte so sein, dass er passte. Aus Liebe zu ihr hatte er sich verbogen, hatte seine Seele weiß gestrichen.
Mit einem Mal schämte Ruth sich so, dass sie in Tränen ausbrach. Armer Horatio, dachte sie, immer geschieht dir dasselbe. Erst war es die Ziege, die dir dein
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