Das Herz des Loewen
Megan geheiratet hatte. Bedrückt erinnerte Ross sich an einbalsamierte Leichen, die lebendiger ausgesehen hatten als der Laird. Er sah die faltige, aschgraue Haut, die rissigen Lippen, den leeren Blick. Die Pupillen in den braunen Augen wirkten so winzig wie Stecknadelköpfe. „Lebt er wirklich noch, Wat?“
„Aye, aber sein Blut fließt viel zu langsam.“ Der kleine Mann nahm seinen Finger vom Puls am Hals des Lairds und richtete sich auf. „Während meiner Reisen sah ich mehrere Menschen, die sich in ähnlichem Zustand befanden. Wahrscheinlich wurde der Laird mit Opium betäubt.“
„Opium! “, riefen Ross und Lady Mary wie aus einem Mund. Weinend schlug die Burgherrin die Hände vors Gesicht.
Wat nahm einen Becher vom Nachttisch und roch vorsichtig daran. „Aye, Opium. Widerlich süß wie der Kuss einer Hure und doppelt so gefährlich. “ Er senkte die Stimme, sodass nur Ross ihn hörte. „Offenbar wurde ihm das Zeug schon seit langer Zeit in großen Mengen verabreicht.“
Nachdenklich runzelte Ross die Stirn. „Also steckt Eammon gar nicht hinter all den dunklen Machenschaften. Archie hielt ihn hier gefangen und redete den Dorfbewohnern ein, Eammon sei Felis’ Reizen völlig verfallen. Und die ganze Zeit regierte er im Namen des Lairds.“
„Ich hätte wissen müssen, dass Eammon sich nicht freiwillig gegen mich gewandt hat, gegen die Familie“, klagte Lady Mary und streichelte die eingefallene Wange ihres Mannes. „Oh, ich hätte an ihn glauben müssen - so wie Meg.“ Ein heftiger Schauer überlief ihren Rücken, dann straffte sie die Schultern, wischte ihre Tränen weg und zeigte wieder ihre Tapferkeit, die sie auch ihrer Tochter vererbt hatte. „Können wir ihn noch retten?“, fragte sie Wat. „Erklärt mir, wie ich vorgehen muss.“
„Das weiß ich nicht“, erwiderte er und strich über sein stoppelbärtiges Kinn. „Erst einmal müssen wir ihn von der Sucht befreien. Das ist mühsam, und er wird schrecklich leiden. Wenn seine Pflegerin nicht stark genug ist ... “
„Ich tue alles, was in meiner Macht steht.“
Überzeugt, dass ihr Wat nach bestem Wissen und Gewissen beistehen würde, wandte sich Ross zu Owain. „Versucht die Hure zu beruhigen und findet heraus, was sie weiß.“
„Mein Platz ist an Eurer Seite“, entgegnete der Waliser. „Überlasst das mir!“ Comyn stieg über Archies Leiche hinweg. „Das bin ich dem Laird schuldig“, fügte er grimmig hinzu. Felis kreischte noch lauter, als er auf sie zuging, und versuchte zu fliehen. Aber er schlug sie mit einem gezielten Fausthieb bewusstlos. Dann klemmte er sie wie ein schmutziges Wäschebündel unter den Arm und trug sie aus dem Zimmer, mit dem Versprechen, sofort zurückzukommen, wenn er sie zum Reden gebracht hatte.
Ross biss die Zähne zusammen. Es ging ihm gegen den Strich, eine Frau so grausam behandelt zu sehen, selbst wenn es eine Dirne wie Felis war. Damals hatte er es nicht übers Herz gebracht, Rhiannon zu töten. Und dann war sie eines viel schlimmeren Todes gestorben ...
Aber da er gerade an Frauen dachte - wo war Megan? Dieser Gedanke führte zu einem anderen. Eammon konnte Lion nicht getötet haben. Nein, Archie und Douglas waren die Schuldigen gewesen. Das Gefühl maßloser Erleichterung ließ ihn schwindeln, sodass die Gesichter der Menschen ringsum vor seinen Augen verschwammen. Doch sie spielten keine Rolle. Niemand zählte außer Megan. Megan Carmichael. Seine Gemahlin.
Ihr Vater war nicht der Mörder seines Bruders. Nun konnte er sie nach Hause bringen, in Frieden und - in Liebe mit ihr leben. Aye, er wollte sie in seinen Armen bergen, in seinem Herzen. Wie heiß er sich nach ihr sehnte ...
Ungeduldig schaute er sich um, aber er entdeckte sie nicht. „Chrissy? Lady Mary? Wo ist Megan?“
Die beiden Frauen wechselten einen kummervollen Blick. „Sie - hat die Burg vor ein paar Stunden verlassen“, antwortete Lady Mary langsam.
„Und wohin ist sie gegangen?“, fragte er erschrocken.
„Siusan ist krank geworden“, erklärte sie und seufzte tief auf. „Und Megan ritt in die Berge, um sie nach Hause zu holen.“
„Allein?“, fragte Ross. „Warum habt Ihr sie nicht zurückgehalten?“
Unglücklich zuckte sie zusammen. „Lucais begleitet sie. Beim Abschied gestand sie uns, keinem anderen könne sie trauen.“
Keinem anderen ... Und das war seine Schuld. Nun machte er sich bittere Vorwürfe, weil er nicht an sie geglaubt und sie grausam bedroht hatte. Aber er würde sie
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