Das Herz des Loewen
hinterließen rote Kratzspuren auf ihren Armen. Ihr lahmes Bein protestierte schmerzhaft gegen die Anstrengung, sie fror, fühlte sich erschöpft und elend. Noch schlimmer war der Gedanke an Ross, die Vorstellung, was hätte geschehen können, wenn ...
Es kam ihr vor, als streiften sie schon viele Stunden durch den Wald. Es wurde immer dunkler, und sie verstand nicht, dass der Junge immer noch sehen konnte, wohin er ritt. Schließlich
fragte sie: „Haben wir die Verfolger abgeschüttelt?“
„Ich glaube schon. Bald wenden wir uns wieder in die Richtung des Wegs, der uns in die Berge hinaufführen wird.“ „Müssen wir weiterreiten?“, seufzte sie, aber als er den Kopf schüttelte, fügte sie tapfer hinzu: „Ein kleines Stück schaffe ich’s schon noch.“
„Die Pferde sollten rasten und wir auch. Diese Stelle hier ist genauso gut geeignet wie jede andere.“ Er stieg ab und führte die Tiere durch das Gestrüpp zu einer kleinen Lichtung, die Megan wie ein rettender Hafen erschien. Erleichtert atmete sie auf und glitt auf den Boden hinab. Ihre Knie knickten ein, und sie wäre auf den Kiefernnadelteppich gefallen, hätte Lucais sie nicht festgehalten. Halb trug, halb zog er sie zum nächsten Baum.
Sie sank zu Boden und lehnte sich an den Stamm. „Oh, mir tut alles weh ... Gleich helfe ich dir, die Pferde zu versorgen.“
„Das ist Männerarbeit“, entgegnete er angewidert und erinnerte sie an ihren Gemahl. Offenbar war sie in letzter Zeit nur noch von arroganten Kerlen umgeben. „Glaubt Ihr, Euer Gatte wird uns folgen?“
„Wahrscheinlich begibt er sich gerade in Curthill zu Tisch.“ „Hoffen wir’s. Niemand sah uns aus der Burg reiten.“ „Außer Mama und Chrissy.“ Notgedrungen hatte sie die beiden geweckt, als sie in ihr altes Gemach geeilt war, um passende Kleidung für den Ritt hervorzusuchen.
„Ich habe schon geahnt, dass irgendetwas nicht stimmt“, hatte Lady Mary geseufzt. „In den letzten Tagen musste ich ständig an Siusan denken. So als würde sie die Hände nach mir ausstrecken. Verstehst du das?“
„Nur zu gut.“ Die Sutherlands besaßen zwar nicht das zweite Gesicht, aber einen stark ausgeprägten Familiensinn, und Megan hatte schon in der Kindheit gelernt, stets auf ihre innersten Gefühle zu achten.
Das Angebot ihrer Mutter und der Cousine, mit ihr zu kommen, hatte sie abgelehnt. Die beiden konnten noch schlechter reiten als sie, Megan, und Lucais sollte nicht mit drei pferdescheuen Frauen belastet werden. Lady Mary hatte die Tochter umarmt und sich die Tränen von den Wangen gewischt. „War
Lord Ross in dieser Nacht - gut zu dir?“
„Aye“, hatte Megan gelogen und sich zu einem Lächeln gezwungen.
„Wenn du zurückkommst, muss ich dir etwas sagen. Das hätte ich schon vor Jahren tun sollen, aber - ich war zu feige ...“
„Unsinn, du hast das Herz einer Löwin, Mama, und ich hoffe nur, wenn ich auf eine so harte Probe gestellt werde wie du in dieser ganzen Zeit, werde ich mich ebenso tapfer zeigen.“
„Schon jetzt bist du sehr mutig, mein Liebes. Bedenk doch, was du in deinem kurzen Leben alles durchmachen musstest!“
Und wie viel noch auf mich zukommt, hatte Megan gedacht. Oh Ross ...
Als Lucais den großen Beutel mit ihrem Buch und ihrer Kleidung neben ihr abstellte, wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Nein, sie war nicht tapfer. Sonst hätte sie keine Angst vor der Morgendämmerung, wo sie wieder aufs Pferd steigen musste.
„Alles in Ordnung?“, fragte der Junge. „Ihr habt gestöhnt.“
Mühsam widerstand sie der Versuchung, sich schluchzend auf den Boden zu werfen. „Ich bin nur müde.“
„Und sicher hungrig.“ Lucais setzte sich zu ihr. „Leider dürfen wir’s nicht wagen, ein Feuer zu machen, aber ich konnte ein paar Lebensmittel aus der Küche stehlen“, erklärte er und drückte ihr eine Scheibe Brot und etwas Geflügelfleisch in die Hände. „Ich habe auch einen Schlauch mit Wein und einen mit Wasser.“
Zu ihrer Verblüffung war sie tatsächlich hungrig. An die raue Rinde des Baumstamms gelehnt, begann sie zu essen, von den Stimmen des Waldes eingehüllt.
Eine seltsame Zufriedenheit erfüllte Megan, und der Wein wärmte sie wohlig von innen. Sie streckte sich auf der Decke aus, die Lucais ihr gebracht hatte, und massierte geistesabwesend die verkrampften Muskeln in ihrem linken Schenkel. In drei oder vier Tagen würde sie wieder mit ihrer Schwester vereint sein. Dann würden sie im Tiefland ein neues Leben beginnen - zu
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