Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
Geirþrúðurs Wohnzimmer darauf angesprochen wurde und man ihm Bildung und Abenteuer versprach, und dann all die Etappen des langen Marsches mit dem Mann, der die Zähne nicht auseinanderkriegt. Er steht da und wird nass. Das Weiß um ihn herum wird matter, es wird Frühling, und er lässt noch einmal alles Revue passieren. Er bleibt lange da oben stehen, so vieles hat sich ereignet, und trotzdem ist der, der da am Hang steht, derselbe, der sich damals auf den Weg gemacht hat, noch immer Unsicherheit statt Blut in den Adern. Es ist nichts weiter geschehen, nur ein Kind an der Winterküste hat schrecklich gehustet, er hat unerwartet Einblick in die Träume seiner Mutter erhalten, das Buch, das er für sie besorgt hat, mit den Kurzgeschichten von Gestur Pálsson, liegt drinnen im Haus an seinem Bett, aber was kommt aus Büchern anderes als Tod und Nebel? Was bringen sie, außer uns mit der Nase auf das zu stoßen, was wir nicht haben? Bárður liegt inzwischen in seiner Heimatgemeinde in der Erde; er, der alles war, ist nichts außer einem Namen auf einem Holzkreuz, nichts ist von seiner Welt mehr da außer Vermissen und Erinnerungen.
Séra Kjartan schaut in die Nacht hinaus und hört seltsame Geräusche, als käme der eine oder andere aus der Hölle, um ihn zu holen, falls es nicht Gott sein sollte, der ihn aus großer Ferne ruft, ihn und seine fast erblindete Frau Anna, vielleicht rührt er sie ja deshalb nicht mehr an, und alle Träume sind erloschen, tot. Träume sind Lichter, die dem Menschen leuchten, sie sind die Helligkeit, die ihn umgibt, ohne sie herrscht Finsternis; du weißt also, was kommt, wenn du aufhörst zu träumen, du weißt, woher die Finsternis im Herzen des Menschen kommt.
Es schneit und regnet auf den Jungen, der kaum an etwas anderes denken kann als an rotes Haar, grüne Augen, wie sie geht, dass niemand so geht wie sie, die ein uneheliches Kind hat und außerdem an Jens denkt, der sehr groß ist, aber im Schlaf zittert. Der Junge guckt in den Schneeregen Richtung Schlucht und konzentriert sich darauf, an Hjalti zu denken. Achtundvierzig Stunden hat er mit ihm verbracht und ihn kaum gekannt, aber vielleicht doch besser als die meisten anderen, und jetzt liegt Hjalti irgendwo tot in diesem Schneematsch, der Frühling wird seine gefrorene Leiche wieder auftauen, Rabe und Fuchs werden dem Geruch folgen; so ein großer Mann bedeutet viel Fressen. Der Junge schließt die Augen, aber es kommt ihm nichts anderes in den Sinn als ihre Worte, dass die Welt eine andere wäre, wenn Jesus eine Frau gewesen wäre, vom Mann geschändet, dann auferstanden ins Licht – lieber Gott, wie gern würde er eine Frau lieben, die so denkt.
Er öffnet die Augen und weint ein kleines bisschen. Schneeregen fällt, alles wird nass, stumpf und grau, das Meer wälzt sich, und die Ertrunkenen reden vom Frühling, von Nächten, in denen alles hell ist, in denen sich die Welt in eine blaue Ewigkeit verwandelt, und irgendwo in siebzig Metern Tiefe sitzt sein Vater und lässt sich von den Fischen beknabbern, schließt die Augen und bildet sich ein, er sei noch am Leben und nicht ertrunken, nicht auf dem Meeresgrund, und dass sie ihn küsst, kalte Küsse in siebzig Metern Tiefe, die Hirnschale knackt unter dem Druck des Meeres, und dasselbe Gewicht hält ihn da unten fest in der Einsamkeit des Todes, auf ewig, eine schwarze Ewigkeit lang, wenn der Junge nicht anfängt zu leben.
X
Ólafur kommt wohl erst spät am Abend, sagt Steinunn dem Jungen, nachdem er gegessen hat; na ja, essen kann man das kaum nennen, er hat ein bisschen gepickt wie ein Küken und musste sich dafür Þórdís’ schlaue Sprüche anhören: Wer wenig isst, ist nichts wert, wer den Blick senkt, hat zu wenig Mut. Er wollte nach oben, sich hinlegen, schlafen, in seine Träume fliehen, schlafen, das heißt wegkommen; doch da sagt Steinunn, Ólafur komme wohl erst spät am Abend, und ob er sich nicht zu ihr ins Wohnzimmer setzen wolle, es sei langweilig allein, und er geht mit ihr, bringt nichts anderes übers Herz oder traut sich nicht, die Einladung abzulehnen, obwohl sich Schüchternheit in ihm wie ein leiser Unterton regt: Worüber sollen sie denn reden?
Hier haben wir gerade gesessen, als ihr ins Haus geplatzt seid. Sie zeigt auf ein Sofa und einen breiten Sessel, als wollte sie ihn zum Platznehmen auffordern, aber ihn zieht der Bücherschrank an, ein massiver, mit Schnitzereien verzierter Schrank mit etwa hundert Büchern.
Die meisten sind alte
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