Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
Gísli zu dem Stock und fühlt sich besser, weil er mit jemandem reden kann. Er spaziert aus dem Ort in die gnadenlose Helligkeit des Sommers, nirgends Dunkelheit, in die man sich verkriechen könnte, keine Schüler, über die er sich selbst vergessen kann. In den letzten Tagen hat sich Gísli Disziplin auferlegt und abends nach elf nichts mehr getrunken; dadurch ist er einigermaßen in Verfassung, wenn er sich morgens um vier auf den Weg in einen hellen und stillen Morgen macht. Er muss so früh los, damit er keinen Menschen begegnet, diesen abstoßenden Alltagswesen und Salzfischanbetern.
Es wird nie etwas aus diesem Volk, sagt er laut zu sich, zum Licht, zum Stock. Es wird kaum jemals Bildung über den Fisch stellen oder auf die Kraft des Verstands bauen. Tausend Jahre auf dieser Insel haben dieses Volk kleingekriegt. Es vertraut seinen Händen, nicht seinem Kopf, dem Arbeiten, nicht dem Denken und entwickelt daher niemals die Ausdauer, etwas Großes zustande zu bringen.
Er ist am Friedhof angekommen, legt den Stock auf der Umwallung ab und knöpft die Jacke auf. Beim Gehen ist ihm warm geworden. Es herrscht Windstille und eine solche Ruhe, dass Gísli die kleinen Uferwellen auf den Strand plätschern hört, wo sonst oft der Junge sitzt, wenn er sich von seiner Lauferei erholt.
Dieses Volk, sagt Gísli – es ist ganz schön, mit sich selbst zu reden, dann hat er zumindest immer irgendwie recht –, dieses Volk wurstelt sich immer durch, es hämmert sich ein Floß zurecht, aber ein Schiff, mit dem es die Welt umsegeln könnte, besitzt es nie.
Er guckt den Stock an, als erwartete er eine Antwort, aber Spazierstöcke sind nun mal überwiegend schweigsam. Gísli seufzt leise und brummt: Ich sollte einen Artikel darüber schreiben, das würde Skúli den alten Teufel freuen.
Er seufzt noch einmal, greift in die Jackentasche und zieht ein teuer eingebundenes französisches Album hervor, vierundzwanzig kaum bekleidete junge Frauen lächeln den Rektor an, der sich so dies und das dabei denkt, aufblickt, als müsste er sich besinnen, und so sieht er, dass Leute kommen, dabei ist es gerade halb fünf.
Nie hat man seine Ruhe, denkt er und kneift die Augen zusammen, um besser zu sehen, er muss sie zusammenkneifen, denn alles lässt nach, wird schwächer, das sexuelle Verlangen, die Träume, der Schlaf, das Sehvermögen. Ein Mann und eine Frau sind es, beide gucken vor sich zu Boden, halten Abstand voneinander, vier Arme hängen ratlos herab.
Da ist der Herr Schulleiter persönlich, sagt Oddur. Rakel blickt auf. Der liest aber auch ewig, der Mann, sagt Oddur, und Rakel nickt zustimmend. Kurz darauf steht man verlegen voreinander.
Du hier?, staunt Gísli. Sein Buch hat er längst eingesteckt und steht an der Friedhofsmauer, greift nach seinem Stock.
Ja, sagt Rakel zaghaft.
Wir machen nur einen Spaziergang, erklärt Oddur entschuldigend.
Ihr kennt euch also, stellt Gísli fest.
Ja, sagt Oddur zögernd und wirft einen Seitenblick auf Rakel, die die Hände auf dem Rücken gefaltet hält und so hinreißend aussieht. Ja, ein wenig, sagt Oddur, ein ganz klein wenig, wiederholt er und hat, ehe er sich’s versieht, vor Gísli einen Diener gemacht.
Das ist schön, sagt Gísli und nickt zurück. Geht ihr noch weiter? Ich will in diese Richtung. Er zeigt mit dem Stock fjordeinwärts.
Nein, ich glaube kaum, antwortet Oddur lauter, als nötig wäre, und Rakel schüttelt den Kopf. Dann dreht sie sich um und schlägt den Rückweg zur Ortschaft ein. Oddur verbeugt sich noch einmal, folgt Rakel, und Seite an Seite, vier verlegene Arme, entfernen sie sich.
Ich weiß gar nicht, wie man mit so vornehmen Leuten redet, sagt Oddur, dem der Schweiß auf die Stirn gestiegen ist.
Ich glaube, es geht ihm nicht gut, sagt sie und blickt zu Boden. Die aschblonden Stirnhaare fallen ihr über die Augen, und auch so ist sie sehr hübsch. Oddur holt tief Luft. Schwierig, zwei Hände und ein Verlangen nach Berührung zu haben, aber zu fühlen, wie sie zurückzuckt, zu sehen, wie sich ihre Augen vor Angst verdunkeln, wenn seine Hände sie berühren. Jetzt aber blickt sie zu Boden, und das ist zweifellos gescheit, denn es gibt an die dreißig Kühe im Ort, die morgens und abends diesen Weg entlanggetrieben werden. Kuhfladen können sehr groß sein, menschliche Füße klein, wie bei Rakel zum Beispiel, und es wäre nicht sehr lustig, wenn ein Fuß von ihr in frischem Kuhmist vom Vorabend versinken würde.
Sie sollten sich an den Händen halten,
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