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Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Titel: Das Herz des Menschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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niemand uns sieht. Du könntest mich nicht lieben, wenn du mich kennen würdest und jeden Tag bei mir wärst. Mein Herz ist ein Organ, das schlägt, weil es nicht anders kann. Ich bin ein Meer, John, und wie das Meer schenke ich dir vorübergehend Freiheit, Abenteuer und ein paar kleine Sünden, aber wer sich zu weit und zu lange auf ein solches Meer hinausbegibt, findet nichts weiter als Einsamkeit und den Tod.
    Eine Bekassine knatterte ganz in der Nähe, ein Regenpfeifer antwortete mit einem wehmütigen Pfiff.
    Fühlst du dich so unglücklich?, fragte er leise und behutsam.
    Du musst das Glück kennen, um Unglück als solches zu erkennen. Guck mich nicht so an! Mich braucht keiner zu bemitleiden, es gibt nichts zu trösten, das Leben besteht aus Sieg oder Niederlage, nicht aus Glück oder Unglück, und ich habe vor, auf meine Weise zu siegen.
    Wie kann man ohne Glück siegen?, fragte ihr Kapitän John Andersen, hob seine kräftige Hand und strich vorsichtig über Geirþrúðurs Augen, wie man etwas streichelt, das einem sehr viel bedeutet, und sie hielt seine Hand fest und biss mit ihren Raubtierzähnen leicht hinein. Das sage ich dir morgen, oder ich flüstere es dir ins Ohr, aber jetzt ist es kühl geworden.
    Sie schauten beide zum Himmel auf, dessen Blau dunkler geworden war. Der Sturm nahte, der wenig später Friðriks Haus beuteln sollte.
    Wenn du willst, sagte sie, und wenn du wieder kannst, dann wäre ich bereit.
    Wenn ich dich nur lieben darf, antwortete er.
    Das darfst du, aber lass deine Liebe hier, wenn du davonsegelst, lass sie hier zwischen den Bergen zurück.
    Liebe legt man nicht einfach so ab.
    Doch, diese Liebe schon, sagte sie und knöpfte die Bluse auf, und ihre hellen Brüste leuchteten ihm entgegen, diese Brüste, die er endlos anschauen konnte, die ihn bis aufs Meer verfolgten, bis nach England, diese Brüste, diese Haut, dieser Duft, die langen Beine, die sich um ihn schlossen, und diese rabenschwarzen Haare, die wie Dunkelheit ins grüne Gras flossen, die heiseren Worte, die sie ihm ins Ohr sagte.
    Wenn ich dich bloß lieben dürfte, flüsterte er glücklich, wisperte er verzweifelt.
    Das gäbe nur Mord und Totschlag, flüsterte sie zurück und drückte mit Kraft seinen Kopf zu Boden, damit er nicht ihr Gesicht und ihre schwarzen Augen sehen konnte, die hinauf in den Himmel blickten. In einen unruhig gewordenen Himmel; in einen Himmel, der so weit entfernt war, dass er den Menschen bisweilen offenbar zu Einsamkeit verurteilt hat.
    Inzwischen hat sich der Himmel dräuend mit dunklen, jagenden Wolken bezogen. Ein Unwetter hängt über uns, dabei ist Sommer. Es ist Juni, der doch so hell sein kann, als könnten wir dem Leben bis auf den Grund sehen, als sähen wir in der Ferne wohlwollend und riesengroß die Ewigkeit. Ein Sturm im Juni, man dürfte ruhig ein bisschen gerechter mit uns umgehen.
    Der Wind reißt das Meer auf, und alles, was nicht niet-und nagelfest ist, fliegt davon, Schaufeln, Handkarren, Versprechen. Verzeih mir, ich liebe dich nicht mehr, der Wind hat mir die Liebe entrissen und sie verweht. Die Pferde stehen im offenen Gelände, manche ohne Windschutz, sie drehen dem Wind, der auf sie einprügelt, den Hintern zu, sie lassen diese Laune über sich ergehen, gucken vor sich hin und warten darauf, wieder Gras weiden zu können. Der Regen drischt auf sie ein, prasselt gegen das große Wohnzimmerfenster in Geirþrúðurs Haus, wo alle vier versammelt sind, der Junge unter einer Lampe, denn er braucht Licht, um die Seiten richtig zu sehen. Wo ist das Licht geblieben, wer hat es weggenommen? Gib es zurück, wir haben es verdient.
    Der Junge muss die Stimme heben, damit ihn die drei anderen verstehen, denn man muss jedes Wort hören, so ist die Literatur, das ist ihr Gesetz, so soll es sein, muss es sein, Schreiben ist Kriegsführung, und vielleicht erleben Schriftsteller mehr Niederlagen als Siege. So ist das nun einmal, hat Gísli erklärt und war vom Hölzchen aufs Stöckchen gekommen. Dabei glühten seine Augen, als wäre er tatsächlich lebendig. Er hatte die fünf Seiten durchgesehen, die der Junge aus Herrn Dickens’ Roman A Tale of Two Cities übersetzt hatte. It was the best of times, it was the worst of times . In dieser Geschichte gibt es wenig Fehler, wenig Niederlagen, was die Arbeit des Übersetzers schwieriger, aber auch erfüllender macht. Der Junge hat nichts gesagt, er hatte die fünf Seiten vor sich, an manchen Stellen mit Gíslis Anmerkungen vollgekritzelt,

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