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Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Titel: Das Herz des Menschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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Übersetzung, endlose Mühe, Angst, Schweiß, Freude, sensible Übertragung von einer Sprache in die andere, zerstört, vernichtet von den Anmerkungen des Schulmeisters, der redete und redete. Der Junge guckte auf die Blätter, und Wut kochte in ihm hoch. Am liebsten hätte er die Blätter zu einer dicken Kugel zusammengeknüllt und sie Gísli in den Hals gestopft, in diese dunkle Röhre.
    Du brauchst dir nichts einzubilden, auch wenn ich dich lobe, Hochmut ist Gift, sagte Gísli plötzlich scharf.
    Mich loben?, fragte der Junge verblüfft und hatte unwissentlich zu grinsen begonnen, den Blick auf die verschmierten Seiten gerichtet. Mich loben, wiederholte er. Nennt man es also loben, wenn man eine Arbeit zerstört, in die jemand sein ganzes Herzblut gelegt hat?
    Der Junge guckte entrüstet Kolbeinn an, der mit geschlossenen Augen neben ihm saß, als ob er schliefe, ihnen aber das linke Ohr zuwandte und jedes Wort mitbekam.
    Ja, erwiderte Gísli, ich würde es Lob nennen, jemandem zu sagen, dass er seine Sache ziemlich gut gemacht hat, richtig gut an manchen Stellen sogar, ganz ungewöhnlich für einen ungebildeten Menschen, doch, das würde ich Lob nennen, oder etwa nicht, Kolbeinn? Dabei hob er die Stimme und schaute Kolbeinn an, der keine Antwort gab und keine Miene verzog.
    Ach so, stimmt, du bist ja gar nicht anwesend, brummte Gísli. Wunderbare Fähigkeit, sich einfach verschwinden zu lassen, eine seltene Gabe, du solltest sie mir beibringen.
    Das habe ich gar nicht gehört, also, dieses Lob meine ich, sagte der Junge entschuldigend. Ich habe nur gesehen, was du alles durchgestrichen hast, und habe gedacht, es tauge alles nichts.
    Aha, das hast du geglaubt?
    Ja.
    Und worüber hast du dann gegrinst?
    Ich musste nur an etwas denken.
    Woran denn? Was war so lustig?
    Na ja, sagte der Junge und genierte sich ein bisschen, ich habe gedacht, wie gut es mir täte, dir die Blätter in den Hals zu stopfen.
    Da lachte Kolbeinn auf, jedenfalls war ein Laut aus ihm zu vernehmen wie aus einem alten, verstockten Hund, der auf einmal etwas Schönes findet, einen anständigen Brocken Fleisch oder erkaltete Paarungsbereitschaft.
    Diese Seiten liest der Junge nun vor, er hat Zeit gehabt, sie noch einmal ins Reine zu schreiben, und ist dabei überwiegend Gíslis Änderungsvorschlägen gefolgt. Er liest vor, während der Regen auf die Welt eintrommelt, aufs Haus, auf die Pferde, und der Wind das Meer aufschlitzt. Er liest vor und versucht dabei zu vergessen, dass nun mancherorts Wasser eindringt, in hellen Strömen, und es muss jetzt unbedingt diesen Regensturm geben, um uns dafür zu bestrafen, dass wir die Milde und die Helligkeit des Sommers genossen haben.
    Der Text hat Kraft, sagt Helga, nachdem der Junge die fünf Seiten gelesen hat, die Wörter, die er in der Sprache gefunden und zum Brückenbauen benutzt hat, damit andere, darunter er selbst, sich fremde Welten näher heranholen können, Leben, Gefühle, Dinge, die in der Ferne liegen und von denen wir nicht wussten.
    Die Wichtigkeit von Übersetzungen kann man kaum überschätzen, hat Gísli behauptet. Sie bereichern einen und erweitern den Horizont. Sie helfen, die Welt besser zu verstehen und auch sich selbst. Ein Volk, das wenig übersetzt und alles nur aus dem eigenen Denken bezieht, ist geistig eng. Ist das Volk darüber hinaus auch noch groß, dann wird es für andere gefährlich, weil ihm alles andere als die eigenen Sitten und Gedanken fremd ist. Übersetzungen erweitern den Horizont und damit auch die Welt. Sie helfen dir, fremde Völker zu verstehen. Wen der Mensch kennt und versteht, hasst oder fürchtet er weniger. Verständnis kann den Menschen vor sich selbst retten. Generäle können dich weniger leicht dazu bringen, zu töten, wenn du über Verständnis und Kenntnisse verfügst. Hass und Vorurteil, musst du wissen, bestehen aus Angst und Unkenntnis. Das solltest du dir notieren.
    Das hat er getan, hat alles aufgeschrieben; dann ist er auf sein Zimmer gegangen und hat die Übersetzung verbessert, und jetzt hat er sie vorgelesen, während das Unwetter auf das Haus einprügelte, der Regen den Ort, die Pferde, die Schafe und die Erde peitschte und die Junihelligkeit dunkel wurde.
    Er ist fertig.
    Der Text hat Kraft, sagt Helga.
    Ja, pflichtet ihr Geirþrúður bei, die hat er. Und sie sieht den Jungen an.
    Sogar Kolbeinn murmelt etwas, das man für ein Lob halten könnte, der gemeine Kerl, der den Jungen nicht ein einziges Mal zu sich eingelassen hat, um sich

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