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Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Titel: Das Herz des Menschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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Louisa lag vollkommen leer geräumt im Hafen, denn die Mannschaft hatte es nicht für nötig gehalten, Ballast zu laden, und daher ist es nicht verwunderlich, dass es bei dem für diese Jahreszeit außergewöhnlich heftigen Sturm zu dem Unglück kam. Für den Hergang gibt es keine Zeugen. Als die Anwohner aufwachten, lag das Schiff kieloben in der Hafenbucht, und es ragte nicht viel mehr als der Kiel aus dem Wasser. Die Leichen der Matrosen und des Steuermanns wurden in Eyrarhlíð angetrieben, die des Kapitäns ist noch nicht gefunden worden.
    Es wird schwer werden, das Schiff zu bergen, denn eine der Mastspitzen hat sich in den Meeresboden gebohrt.«
    So ist es, der Mast steckt im Grund fest, das Meer will seine Beute nicht freigeben. Es passieren viele schreckliche Dinge. Natürlich kennen wir das Meer, wir leben auf einer Insel, das Meer ist unser einziger Nachbar, das Einzige, woran wir uns halten können, und das Meer ist gefährlich, es tötet schnell und gnadenlos jeden, der einmal unachtsam ist, nicht aufpasst. Aber dass dieser vollständige Mangel an versöhnlicher Nachsicht, diese Brutalität, Fremde, Ausländer, mit dem Tod zu bestrafen, nur weil sie einmal vergessen oder unterlassen haben, noch mitten in der Nacht Ballaststeine zu schleppen, weil sie natürlich nach dem Entladen des ganzen Schiffs müde waren und der Kapitän noch nicht an Bord gekommen war und sie deswegen einmal fünf gerade sein ließen, dass also diese Unbarmherzigkeit so bedingungslos im meist so ruhigen Hafenbecken zuschlug, das überraschte sogar uns.
    Sicher sind auch vorher schon Menschen gekentert und haben ihr Leben verloren, ließen es im Meer bei den Fischen zurück, im Schweigen und Vergessen. Letztes Frühjahr erst sind ein Buchhalter und zwei Verkäufer von Magnús im Hafenbecken verunglückt. Der Hering war in den Fjord gekommen, und die Männer hatten die Erlaubnis bekommen, den Laden kurz zu verlassen, sie ruderten in einem Kahn hinaus auf die Bucht und schöpften fröhlich Hering ins Boot, man hörte ihr Lachen bis an Land, doch auch ihre Rufe, als der Buchhalter das Gleichgewicht verlor und kopfüber ins unbewegte Wasser fiel. Als die beiden Verkäufer ihn zu retten versuchten, kippte der ganze Kahn um. Einige Männer an Land schoben schnell ein Boot ins Wasser, um ihnen zu Hilfe zu eilen, aber sie kamen viel zu spät, die Verkäufer hingen unterkühlt und stumm auf dem gekenterten Bootsrumpf, und nicht weit von ihnen entfernt trieb der Buchhalter auf dem Bauch, mit dem Gesicht nach unten, als versuchte er, etwas auf dem Meeresgrund zu lesen.
    Es ist hart und wirklich kein Vergnügen, ein gekentertes Schiff vor Augen zu haben, mit dem scharfen Kiel nach oben wie ein breites Messer, mit dem sich die Helligkeit durchschneiden lässt. Alle Würde, die Schiffe ausstrahlen, ist weg, die Freiheit, die in den Segeln steckt, das Singen bei voller Fahrt sind verschwunden, ein Schiff kieloben im Wasser stellt eine Demütigung dar, es beleidigt die Augen und verstört das Herz.
    Als wir erwachen, herrscht beinahe Windstille, aber der Vorfall spricht sich schnell herum, in Windeseile sozusagen. Helga tritt mit Andrea auf den Absatz der Freitreppe, Andrea zeigt in die Richtung, als wäre es nötig, auf Demütigung und Tod auch noch mit dem Finger zu zeigen. Da ist es kaum später als sechs Uhr, aber drei Boote sind schon bei dem gekenterten Schiff, dümpeln herum wie Badezuber im Vergleich zu dem großen Schiffsrumpf. Der Wind ist fast eingeschlafen, aber die See ist noch unruhig, ihre Wut hat sich noch nicht ganz gelegt. Helga hat den Jungen gebeten, ihr das Fernglas zu holen, und als sie es an die Augen setzt, sieht sie einen Mann auf den Schiffsrumpf pochen, als würde er gegen eine Tür klopfen. Hallo, ist da jemand?
    Ja, antwortet der Tod, ich bin stets zu Hause, bei mir stehst du nie vor verschlossener Tür und bist jederzeit willkommen. Meine Umarmung ist größer als das Leben.
    Ist er …, sagt der Junge. Alle stehen draußen auf dem Treppenabsatz, er eine Stufe tiefer, damit alle drei Frauen Platz finden, Ólafía an der Tür, Helga mit dem Fernglas und Andrea, die sich gegen das Geländer lehnt, ihre rechte Hand hält den linken Ellbogen. Ein Anflug von Grau liegt auf ihren Haaren, und ihre Lippen presst sie zusammen. Sie schaut zum Hafen, kneift die Augen zusammen, um deutlicher zu sehen, was sie am liebsten gar nicht sehen will, was ihr aber schon entgegenblickte, als sie aus dem Kellerzimmer kam und hörte, dass

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