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Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Titel: Das Herz des Menschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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keiner überlebt hätte.
    Ist er …, setzt der Junge noch einmal an, und da blickt Andrea ihn an, ihre Blicke begegnen sich, und sie sieht den Jungen so liebevoll an, dass es ihm den Hals zuschnürt, ein Schluchzen steigt in ihm hoch und löst seine Worte auf. Er muss innehalten und schlucken, um weitersprechen zu können und den Satz ordentlich zu vollenden, dabei ist er seltsam glücklich darüber, wie Andrea ihn angeblickt hat, und zugleich ist es ihm unangenehm, dass er ausgerechnet in diesem Augenblick, in dem sie im Hafenbecken den Tod sehen, in dem der Schiffskiel ein Messer ist, das Leben zerschneidet, in dem Menschen ertrunken sind, ihr Leben ausgelöscht wurde und irgendwo auf der anderen Seite des Meeres Menschen noch trauern und weinen, Kinder nach dem fragen werden, der nie wieder zu ihnen zurückkommt, das Leben zu einer Erinnerung verblasst ist und eine Berührung zu einem Vermissen, dass er gerade da Glück und tiefe Zuneigung empfinden muss.
    Ist er, setzt er noch einmal an, ist er aufs Schiff zurückgegangen, oder hat er hier übernachtet?
    Helga lässt das Fernglas sinken, Ólafía tritt einen Schritt weiter vor, ihre großen, geschwollenen Hände schließen sich um Andreas Arm und halten sich da fest. Für manche ist das Leben ein Abgrund, und wo ist der Arm, der mich vor dem Sturz bewahrt?
    Nein, sagt Helga und lässt das Glas hängen. Der Mann klopft nicht mehr mit der Faust auf den Schiffsrumpf, um den Tod herauszurufen, und die Boote kreisen ratlos um das Wrack. John ist aufs Schiff zurückgegangen, sagt Helga.
    Ólafía fängt an zu schluchzen. Dieser stattliche Mann, schnieft sie, und Andrea legt den Arm um sie. Hier ist meine Schulter, sagen ihre Arme, und da fängt Ólafía richtig an zu weinen. Sie heult lauthals, obwohl sie Kapitän John Andersen kaum gekannt hat. Er trank in der Gastwirtschaft Kaffee und schäkerte ein bisschen mit ihnen, Helga hat übersetzt und dabei außergewöhnlich viel gegrinst, er hat ihnen ganz ausführlich und vergnügt von seinem kleinen Kater erzählt, und so etwas tun nur gute Menschen, und er hatte so schöne Augen, und jetzt ist er sicher tot, die See hat ihn sich geholt. Ólafía weint. Helga, die John Andersen sehr geschätzt hat, verzieht keine Miene; sie streichelt Ólafía die Schulter und weiß natürlich genau, dass es nicht die Trauer über den Kapitän ist, die diese Tränenflut ausgelöst hat, dass sich nicht etwa da eine Wunde geöffnet hat, sehr weit aufgebrochen ist, sondern die Trauer über ihr ganzes Leben, über die Kinder, die nach Amerika gegangen sind, über die Enkelkinder, die sie wahrscheinlich nie kennenlernen wird, deren kleine Händchen niemals ihr rundliches Gesicht betatschen werden. Und sie weint wegen Brynjólfur, dieses kräftigen Mannes, der sie mehr als zwanzig Jahre lang in seinen Armen hielt und es dann zunehmend seltener tat, als wäre sie hässlich und nicht mehr begehrenswert. Das alles ist so ungerecht, tut so unendlich weh. Komm zu uns, Mama, hat ihr Sohn Áki geschrieben, aber sie kann Brynjólfur nicht verlassen, er trinkt zu viel, er ist unglücklich, sie kann ihn nicht hier zurücklassen, und bald kann sie ihn bestimmt wieder in die Arme schließen, es muss doch so kommen, ganz sicher, ganz sicher. Andrea hält ihren ungeschlachten Körper fest und versteht kaum die Hälfte dessen, was Ólafía abgehackt hervorschluchzt, aber sie versteht ihre Tränen umso besser. Ja, ganz bestimmt, sagt sie leise und streicht der Weinenden den Rücken, ganz bestimmt.
    Helga lässt das Fernglas in der Rechten hängen und schaut sie an, steht dabei etwas vorgebeugt, was ungewöhnlich für sie ist; vielleicht braucht sie auch eine Schulter zum Anlehnen, weiß aber nicht, wie man darum bittet. Um wessen Schulter sollte es sich auch handeln, gibt es für jeden eine Schulter? Nachdrücklich, aber schnell streichelt sie Ólafía noch einmal.
    Du Ärmste, sagt sie, doch da weint Ólafía nur noch lauter. Lauf zum Hafen, sagt Helga zu dem Jungen, und bring in Erfahrung, was passiert ist! Ich gehe und wecke Geirþrúður.
    Da lässt Ólafías Weinen nach.
    Der Junge möchte gemessenen Schrittes zum Hafen gehen, verfällt aber doch unwillkürlich ins Laufen. Am unteren Kai Neðribryggja steht eine Menschenmenge. Etliche sind mit Entladen beschäftigt, arbeiten aber langsam, blicken immer wieder auf die Bucht, zum Schiff und den herumrudernden Booten hinüber. Andere haben Frühstückspause, Frauen an den Verarbeitungsplätzen stehen in

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