Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Titel: Das Herz des Menschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
Vom Netzwerk:
unten an der Neðribryggja das Sagen haben, vielleicht war ihm klar, dass man, wenn man schon von Schuld sprach, weiter suchen musste als da, wo es auf den ersten Blick ins Auge sprang.
    J. Andersen wollte zu seinem Schiff übergesetzt werden.
    Bad wetter måske komming , sagte der Ruderer. Ja, manch einer hier versteht es, sich international auszudrücken, wobei es nicht darauf ankommt, dass es verständlich ist und die Wörter alle derselben Sprache angehören. Zusätzlich nickte der Mann sicherheitshalber mit dem Kopf Richtung Himmel, der sich verzogen hatte, dunkle Wolken waren an seine Stelle getreten, doch J. Andersen hatte lediglich gelächelt, war mit seinen Gedanken ganz woanders gewesen, das Lächeln seine einzige Reaktion, er schien völlig abwesend; vielleicht saß sein Körper in dem Kahn, aber seine Aufmerksamkeit und seine Gedanken waren weit, weit weg. Er bestieg sein Schiff ohne Ballast, und er hätte darauf aufmerksam werden müssen, als der Wind auffrischte. Die Mannschaft hatte ein paar Flaschen starken Fusel gebunkert. Das sind vielleicht ein paar Scheißberge, sagten die Männer und tranken. Ihr Kapitän aber saß oder lag in seiner Kajüte, streichelte ein schnurrendes Katerchen und erlaubte es sich, viel an Geirþrúður zu denken und wie sie sich bewegte, und sein Blut geriet dabei in Wallung. Wir können es Begehren, Liebe, Lebensdurst, Verlangen nach Glück oder sonstwie nennen – welche Bezeichnung wir auch wählen, das jedenfalls war der Grund, weshalb er nicht aufpasste und erst zu spät bemerkte, wie unnatürlich das Schiff schwankte, und weshalb er ertrank. Mitsamt den ganzen übrigen Männern. So gefährlich ist es, von Leidenschaft zu träumen, von Augen und Sommersprossen, überhaupt zu träumen, anstatt an den Überlebenskampf zu denken. So ist das. Da träumt einer zu intensiv von Gedichten, vergisst seinen Anorak und erfriert. Da träumt einer von einer Frau, dem Duft ihrer Haare, wie sie über seine Brust und seinen Bauch streichelt, bemerkt darüber nicht, dass kein Ballast geladen wurde, und das Schiff kentert, Menschen und Katze ertrinken. Vielleicht sollte uns das etwas lehren. Etwas über die Gefahr des Traums und die Gefahr der Poesie. Aber wer erinnert sich schon an Menschen, die sich nur selten oder nie in Träume verloren haben, die nicht an innerer Glut verbrannten, sondern langsam, aber sicher grau wurden, grau und welk, und die allmählich mit dem grauen Einerlei verschmolzen, selbst Monotonie wurden und lange vor ihrem Tod verschwanden. Bitten wir also lieber um Glut, selbst wenn sie uns vor der Zeit das Leben kosten sollte, nehmen wir das Risiko an, und leben wir.
    Ach, hätten wir das bloß getan!

XVI
    Es kostete gut drei Wochen, die heilige Louise wieder aufzurichten. Ein kieloben treibendes Schiff ist ein fürchterlicher Anblick; das fanden wir jedes Mal, wenn wir auf die stille Bucht hinausblickten, die den Himmel, die Berge und unser Leben spiegelt und auch die Wolken, die dem Menschen so ähnlich sind, wurzellos, kurzlebig, in ständiger Veränderung begriffen. Drei Wochen Tauziehen mit dem Meeresboden. Geirþrúður saß eine Nacht unten am Ufer und guckte nur hinaus, guckte und guckte, die ganze Nacht lang. Die Juninächte hier im Norden müssen die schönsten auf der Welt sein, die mitternächtliche Helligkeit kann dich nach und nach glückstrunken machen, sie wäscht alles von dir ab, Angst, Erschöpfung, Neid, Hass, alles, was wie Moder im Menschen wirkt. Alles ist still, transparent. Die Juninacht ist so etwas wie der Hauch Gottes, und für eine kurze Weile wird das gesamte Dasein weich und still. Für eine Weile. Die Wunden des Lebens heilen gewiss nicht in einer einzigen Nacht, dazu braucht es mehr Zeit, aber die nächtliche Helligkeit streichelt sie behutsam, und sie erlaubt es dir, zu weinen. Hat Geirþrúður geweint? Kann etwas so Klares und Durchsichtiges wie Tränen aus solch dunklen Augen kommen? Sie saß die ganze Nacht da. Nicht die ganze Zeit allein. Gegen eins kam Helga mit einer Decke und legte sie ihr um die Schultern. Sie sagte nichts, legte ihr nur die Decke um, aber es lagen viele Worte in dieser Geste. Dann stand sie stumm neben ihrer Hausherrin. Wo die Sprache versiegt, übernimmt die persönliche Anwesenheit. Dann ging Helga ins Haus zurück. Geirþrúður blieb weiterhin draußen in der Nacht, in der Stille, schaute und dachte und streckte manchmal notgedrungen die Finger, weil sie sich vor Sehnsucht ganz taub anfühlten und so

Weitere Kostenlose Bücher