Das Herz des Ritters
düstere Vorstellung, als sie zum Ende der Kolonnade hastete. Daher bemerkte sie das flackernde Kerzenlicht, das durch den Spalt einer Tür fiel, erst, als sie fast davorstand. Irgendjemand war noch wach. Erschrocken blieb Zahirah stehen. Sie musste an dem Gemach vorbei, um in den Garten zu gelangen.
Sie vernahm das leise Scharren eines Stuhles, der über die Fliesen geschoben wurde, gefolgt von dem gedämpften Geräusch langsamer Schritte, die sie die ungefähre Größe und Schwere des Bewohners erahnen ließen. Sie musste den schwarzhaarigen Kreuzritter nicht erst sehen, um zu wissen, dass er es war; sie konnte seine Nähe förmlich in jeder Faser ihres Körpers spüren. Sebastian – so hatte sein Freund ihn genannt. Mit angehaltenem Atem schlich Zahirah zu der angelehnten Tür und spähte, den Rücken an die Wand gedrückt, hinein. Ihr Blick fiel auf seine breiten Schultern, womit sich ihre kühne, unerklärliche Vorahnung bestätigte. Glücklicherweise hatte er den Rücken der Tür zugewandt und schien ganz vertieft in seine Beschäftigung.
Den linken Arm mit dem Ellbogen an die Wand gestützt, den dunklen Schopf gesenkt, las er ein Dokument, das er in der rechten Hand hielt. Auf dem Tisch befand sich ein Tintenfass; daneben lag ein angefangener Brief – ein Beweis, dass der raue Soldat über eine gewisse Bildung verfügte. Die Erkenntnis überraschte sie, denn sie hatte die Kreuzfahrer für einen unkultivierten Haufen gehalten; für ungehobelte, dumme Barbaren, die nichts anderes als Krieg im Sinn hatten und ebenso wenig Moral und Intelligenz besaßen wie die niedersten Tiere.
Genau das hatte ihr Vater, Raschid ad-Din Sinan, ihr immer gepredigt. Genau das hatte man sie gelehrt, seit sie sprechen gelernt hatte – und die Lektion war ihr oft genug mit dem strafenden Ende einer Olivenbaumrute eingebläut worden.
Zahirah vertrieb die schwarzen Erinnerungen, bevor sie Wurzeln schlagen konnten. All das lag bereits weit in der Vergangenheit, sie durfte diesen Gedanken nicht länger nachhängen. Sie musste nun auf ihr Wissen vertrauen, auf ihre Ausbildung.
Entschlossen richtete sie die Augen auf das Hindernis, das ihr den Weg in die Freiheit versperrte, beobachtete, wie der Engländer tief ein- und ausatmete, und wartete auf eine günstige Gelegenheit, um unbemerkt an ihm vorbeizuschlüpfen. Womöglich hatte er etwas in seinem Rücken gespürt, denn plötzlich hob er den Kopf und warf einen Blick über seine Schulter.
Zahirah zögerte keinen Wimpernschlag länger. Ehe er sich noch ganz umdrehen und sie entdecken konnte, hastete sie rasch an der Tür vorbei und lief lautlos den Flur hinunter.
Wenig später erreichte sie den bogenförmigen Eingang zum Garten und ging geradewegs zu der verabredeten Stelle an der Südmauer. Im weichen Gras vor dem Rosenstrauch, dessen schwere blutrote Blüten das hohe Mauerwerk überrankten, sank sie auf die Knie.
»Halim«, flüsterte sie. »Bist du da?«
Schweigen grüßte sie von der anderen Seite der Mauer.
Ist er schon wieder gegangen?,
fragte sie sich beunruhigt. Sie wartete einen Augenblick, betete um Antwort und atmete tief durch. Ihre Gedanken rasten. Sie beugte sich vor und tastete hastig den Boden unter dem Rosenbusch nach der Waffe ab. Tief drang sie in das Gestrüpp vor, und obgleich sie versuchte, den Dornen so gut wie möglich auszuweichen, verfing sich ihr Schleier darin. Schließlich fand sie, wonach sie suchte. Am Fuß der Mauer befand sich der beschriebene Stein; erst vor einer Woche war er aus den anderen Steinen herausgelöst worden. Von außen leicht zugänglich, lag er nun lose in der Mauer, durch das Rosengebüsch gut versteckt.
Mit beiden Händen ruckelte Zahirah den Stein hin und her, bis sie ihn ganz herausziehen konnte. Ein Hauch kalter Nachtluft wehte durch den Spalt, gefolgt von Halims rauem Flüstern.
»Du kommst zu spät.«
»Nur wenige Augenblicke«, gab sie zu. »Nicht alle hatten sich zur Nachtruhe begeben. Ich musste vorsichtig sein.«
Halim gab einen grunzenden Laut von sich. »Jafar ist tot, dass du es nur weißt. Ich habe gesehen, wie der englische Hundesohn ihn wie ein Schwein mitten auf dem Markt abgestochen hat.«
»Ich weiß«, flüsterte Zahirah. Der ungewohnt bekümmerte Ton in Halims Stimme war ihr nicht entgangen.
Er und Jafar waren Brüder – zwei von Sinans besten und erfahrensten Männern. Gelegentlich hatte sie die beiden bei den Waffenübungen in Masyaf jedoch geschlagen. Die sonst ausschließlich aus Männern
Weitere Kostenlose Bücher